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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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sammenwirken! Wie viel nützlicher wäre es, wenn die Gesetzgebung mehr
von der Nothwendigkeit wissenschaftlich gewonnener Ueberzeugung, die Wissen¬
schaft mehr von der Nothwendigkeit eines stetigen Fortschreitens der Gesetzge¬
bung in sich trüge.

Indessen wir müssen die Dinge nehmen, wie sie einmal liegen. Angesichts
der Methode, die wir in der juristischen Schule gewohnt sind, ist es überaus
erklärlich, daß die Gesetzgebungsfactoren des Staates sich zunächst, ja sogar
allein von dem leiten lassen, was man praktische Einsicht zu nennen pflegt.
So sehr man bedauern mag, daß die Gesetzgebungskunst, oft genug in
bloße praktische Routine ausartet, die Ueberzeugung von der Nothwendigkeit
wissenschaftlich-historisch erkannter Principien fast ganz verloren hat, -- so
ist doch aber das reale Bedürfniß ein mächtiges Ding, und doppelt mächtig,
wenn es so lange vernachlässigt wurde. Indem die gesetzgeberische Thätigkeit
den Anforderungen, welche das wirthschaftliche und Culturleben der Gegen¬
wart von allen Seiten erhebt, bereitwillig nachkommt und von ihrer Befug-
niß der Neuordnung den ergiebigsten Gebrauch macht, wird unvermeidlich der
hergebrachte Bestand der juristischen Wissenschaft weit überholt.

Eine Masse neuen Stoffs strömt durch die unablässige Arbeit der Legis-
lation herbei. Die Wissenschaft soll ihn verarbeiten. Der Inhalt der positi¬
ven Gesetze ist zu allernächst das Material, mit dem sie zu schalten und wal¬
ten, das sie mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln zu beleuchten und zu
wissenschaftlich bewußter Erkenntniß zu bringen hat. Wird dieser Aufgabe
genügt? Ich fürchte, man wird mit Nein antworten. Es sei ferne, zu be¬
haupten, daß es unter den Theoretikern Niemand gebe, der mit voller Nei¬
gung die Rechtserscheinungen der Neuzeit verfolgte. Von manchen geschieht
dies sogar mit Vorliebe. Jede neue Gesetzesmaterie findet im Durchschnitt
auch unter den Rechtslehrern Bearbeiter, sei es auch nur in der beliebten,
freilich wiederum meist mehr dem Bedürfniß der Praktiker, als strengeren wissen¬
schaftlichen Ansprüchen entsprechenden Form des Commentars. Solche Dar¬
stellungen, soviel Handwerksmäßiges ihnen beigemischt ist, dienen immerhin
der systematischen Behandlung als Vorarbeiten und bezeugen mindestens, daß
ein Theil der Lehrer sich mit den neuen Sachen ernstlich beschäftigt.

Allein das ist lange nicht Alles, was wir von der juristischen Schule
erwarten. In der großen Zeit, in der wir leben, Angesichts der Wiederge¬
burt der deutschen Nation und des deutschen Reiches, die sich vor unseren
Augen vollzogen hat. dürfen, ja müssen unsere Erwartungen hoch hinaus¬
gehen. Wir erwarten nichts Geringeres, als eine echt nationale Entwicklung
unseres Rechts. Wir meinen, wie erst kaum der Bemerkung bedarf, damit
nicht, daß unser Recht um jeden Preis anders sein müsse, als das jeder an¬
dern Nation. Wir meinen auch nicht, daß, wie so oft noch aus naivem


sammenwirken! Wie viel nützlicher wäre es, wenn die Gesetzgebung mehr
von der Nothwendigkeit wissenschaftlich gewonnener Ueberzeugung, die Wissen¬
schaft mehr von der Nothwendigkeit eines stetigen Fortschreitens der Gesetzge¬
bung in sich trüge.

Indessen wir müssen die Dinge nehmen, wie sie einmal liegen. Angesichts
der Methode, die wir in der juristischen Schule gewohnt sind, ist es überaus
erklärlich, daß die Gesetzgebungsfactoren des Staates sich zunächst, ja sogar
allein von dem leiten lassen, was man praktische Einsicht zu nennen pflegt.
So sehr man bedauern mag, daß die Gesetzgebungskunst, oft genug in
bloße praktische Routine ausartet, die Ueberzeugung von der Nothwendigkeit
wissenschaftlich-historisch erkannter Principien fast ganz verloren hat, — so
ist doch aber das reale Bedürfniß ein mächtiges Ding, und doppelt mächtig,
wenn es so lange vernachlässigt wurde. Indem die gesetzgeberische Thätigkeit
den Anforderungen, welche das wirthschaftliche und Culturleben der Gegen¬
wart von allen Seiten erhebt, bereitwillig nachkommt und von ihrer Befug-
niß der Neuordnung den ergiebigsten Gebrauch macht, wird unvermeidlich der
hergebrachte Bestand der juristischen Wissenschaft weit überholt.

Eine Masse neuen Stoffs strömt durch die unablässige Arbeit der Legis-
lation herbei. Die Wissenschaft soll ihn verarbeiten. Der Inhalt der positi¬
ven Gesetze ist zu allernächst das Material, mit dem sie zu schalten und wal¬
ten, das sie mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln zu beleuchten und zu
wissenschaftlich bewußter Erkenntniß zu bringen hat. Wird dieser Aufgabe
genügt? Ich fürchte, man wird mit Nein antworten. Es sei ferne, zu be¬
haupten, daß es unter den Theoretikern Niemand gebe, der mit voller Nei¬
gung die Rechtserscheinungen der Neuzeit verfolgte. Von manchen geschieht
dies sogar mit Vorliebe. Jede neue Gesetzesmaterie findet im Durchschnitt
auch unter den Rechtslehrern Bearbeiter, sei es auch nur in der beliebten,
freilich wiederum meist mehr dem Bedürfniß der Praktiker, als strengeren wissen¬
schaftlichen Ansprüchen entsprechenden Form des Commentars. Solche Dar¬
stellungen, soviel Handwerksmäßiges ihnen beigemischt ist, dienen immerhin
der systematischen Behandlung als Vorarbeiten und bezeugen mindestens, daß
ein Theil der Lehrer sich mit den neuen Sachen ernstlich beschäftigt.

Allein das ist lange nicht Alles, was wir von der juristischen Schule
erwarten. In der großen Zeit, in der wir leben, Angesichts der Wiederge¬
burt der deutschen Nation und des deutschen Reiches, die sich vor unseren
Augen vollzogen hat. dürfen, ja müssen unsere Erwartungen hoch hinaus¬
gehen. Wir erwarten nichts Geringeres, als eine echt nationale Entwicklung
unseres Rechts. Wir meinen, wie erst kaum der Bemerkung bedarf, damit
nicht, daß unser Recht um jeden Preis anders sein müsse, als das jeder an¬
dern Nation. Wir meinen auch nicht, daß, wie so oft noch aus naivem


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[0214] sammenwirken! Wie viel nützlicher wäre es, wenn die Gesetzgebung mehr von der Nothwendigkeit wissenschaftlich gewonnener Ueberzeugung, die Wissen¬ schaft mehr von der Nothwendigkeit eines stetigen Fortschreitens der Gesetzge¬ bung in sich trüge. Indessen wir müssen die Dinge nehmen, wie sie einmal liegen. Angesichts der Methode, die wir in der juristischen Schule gewohnt sind, ist es überaus erklärlich, daß die Gesetzgebungsfactoren des Staates sich zunächst, ja sogar allein von dem leiten lassen, was man praktische Einsicht zu nennen pflegt. So sehr man bedauern mag, daß die Gesetzgebungskunst, oft genug in bloße praktische Routine ausartet, die Ueberzeugung von der Nothwendigkeit wissenschaftlich-historisch erkannter Principien fast ganz verloren hat, — so ist doch aber das reale Bedürfniß ein mächtiges Ding, und doppelt mächtig, wenn es so lange vernachlässigt wurde. Indem die gesetzgeberische Thätigkeit den Anforderungen, welche das wirthschaftliche und Culturleben der Gegen¬ wart von allen Seiten erhebt, bereitwillig nachkommt und von ihrer Befug- niß der Neuordnung den ergiebigsten Gebrauch macht, wird unvermeidlich der hergebrachte Bestand der juristischen Wissenschaft weit überholt. Eine Masse neuen Stoffs strömt durch die unablässige Arbeit der Legis- lation herbei. Die Wissenschaft soll ihn verarbeiten. Der Inhalt der positi¬ ven Gesetze ist zu allernächst das Material, mit dem sie zu schalten und wal¬ ten, das sie mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln zu beleuchten und zu wissenschaftlich bewußter Erkenntniß zu bringen hat. Wird dieser Aufgabe genügt? Ich fürchte, man wird mit Nein antworten. Es sei ferne, zu be¬ haupten, daß es unter den Theoretikern Niemand gebe, der mit voller Nei¬ gung die Rechtserscheinungen der Neuzeit verfolgte. Von manchen geschieht dies sogar mit Vorliebe. Jede neue Gesetzesmaterie findet im Durchschnitt auch unter den Rechtslehrern Bearbeiter, sei es auch nur in der beliebten, freilich wiederum meist mehr dem Bedürfniß der Praktiker, als strengeren wissen¬ schaftlichen Ansprüchen entsprechenden Form des Commentars. Solche Dar¬ stellungen, soviel Handwerksmäßiges ihnen beigemischt ist, dienen immerhin der systematischen Behandlung als Vorarbeiten und bezeugen mindestens, daß ein Theil der Lehrer sich mit den neuen Sachen ernstlich beschäftigt. Allein das ist lange nicht Alles, was wir von der juristischen Schule erwarten. In der großen Zeit, in der wir leben, Angesichts der Wiederge¬ burt der deutschen Nation und des deutschen Reiches, die sich vor unseren Augen vollzogen hat. dürfen, ja müssen unsere Erwartungen hoch hinaus¬ gehen. Wir erwarten nichts Geringeres, als eine echt nationale Entwicklung unseres Rechts. Wir meinen, wie erst kaum der Bemerkung bedarf, damit nicht, daß unser Recht um jeden Preis anders sein müsse, als das jeder an¬ dern Nation. Wir meinen auch nicht, daß, wie so oft noch aus naivem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/214>, abgerufen am 24.07.2024.