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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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behandeln, als ob sich beide unter einander von Haus aus blitzwenig angingen.
So groß ist im Gegentheil die Rückwirkung der Prozeßreform auf einen
großen Theil des materiellen Rechts, daß die Reform des Processes in Wahr¬
heit auch schon eine Reform des materiellen Rechts einschließt. Ja, es läßt
sich ohne Paradoxie behaupten, daß die Proceßordnung ohne besondere Mühe
ein gutes Stück der Codification des Civilrechts ersparen kann und ersparen
wird. Vollends würde das eine Proceßordnung thun, die es mit ihrer (Kom¬
petenz in Bezug auf Ergreifen des materiellen Rechts etwas weniger ängstlich
nähme, als es die Entwürfe, sicher ohne alle Noth, -- denn Bundesrath und
Reichstag würden schwerlich daraus einen Vorwurf machen, -- zur Zeit ge¬
than haben.

Die Lage, in der sich mithin das Recht, namentlich das bürgerliche, und
folglich auch dessen Darstellung befindet, ist eine keineswegs behagliche. Wo
sind die schönen Tage, oder vielmehr Jahrzehnte, jene langen Epochen hin,
während deren die Rechtslehre sich in aller Ruhe eines stetigen Besitzes er¬
freuen konnte? Bald hier, bald dort fährt ihr die Gesetzgebung auf den Leib.
Tiefe Wunden fühlt sie sich geschlagen und noch schlimmere drohen von allen
Seiten für die nächste Zukunft. Wer will da erstaunen, wenn man zumeist
in den Kreisen der gelehrten Theoretiker, aber auch in den Kreisen der
Praktiker leicht einer Stimmung begegnet, die sich bald in melancholischen,
bald in cholerischen Klagegesängen wider die Ueberstürzung der Gesetzgebung
Luft macht. Hat man doch selbst im Reichstage deren manchmal vernommen.
Noch jüngst hat sich Herr Reichensperger, als rückwärtsblickender Seher, be¬
müht, durch einige weise Betrachtungen das rollende Rad der Nechtsneuerun-
gen aufzuhalten.

Es ist nicht unsere Absicht, hier die Bundesgesetzgebung zu vertheidigen
oder kritisch prüfen zu helfen. Daß nicht Alles gut ist, was sie bis jetzt ge¬
liefert hat, mag zugegeben werden; nicht minder, daß manches zu hastig, dem
Inhalte und der Form nach wenig fertig zum Vorschein gekommen ist. Wir
können wünschen, das solle sich künftig bessern. Allein soviel erscheint ausge¬
macht: die Reichsgesetzgebung muß weiter vorwärts gehen, sie muß die be¬
gonnene Umgestaltung des Rechts fortsetzen. Sie muß es, nicht blos weil
sie einmal begonnen, sondern weil sie der Nation die Erfüllung der berech-
tigsten Forderung schuldet, der Forderung nationaler Rechtseinheit in allen
den Zweigen, in denen das Bedürfniß Einheit erheischt. Und dieses Bedürf¬
niß ist so unabweislich, daß nach vielen Richtungen hin gewiß mit Recht
manche Mängel der Gesetzgebung verziehen werden, wenn sie vorerst wenig¬
stens an die Stelle einiger zwanzig verschiedener Particularrechte ein einziges
Gesetz stellt, von dem sich Jeder sagt, daß es als einheitliches Gesetz leicht


behandeln, als ob sich beide unter einander von Haus aus blitzwenig angingen.
So groß ist im Gegentheil die Rückwirkung der Prozeßreform auf einen
großen Theil des materiellen Rechts, daß die Reform des Processes in Wahr¬
heit auch schon eine Reform des materiellen Rechts einschließt. Ja, es läßt
sich ohne Paradoxie behaupten, daß die Proceßordnung ohne besondere Mühe
ein gutes Stück der Codification des Civilrechts ersparen kann und ersparen
wird. Vollends würde das eine Proceßordnung thun, die es mit ihrer (Kom¬
petenz in Bezug auf Ergreifen des materiellen Rechts etwas weniger ängstlich
nähme, als es die Entwürfe, sicher ohne alle Noth, — denn Bundesrath und
Reichstag würden schwerlich daraus einen Vorwurf machen, — zur Zeit ge¬
than haben.

Die Lage, in der sich mithin das Recht, namentlich das bürgerliche, und
folglich auch dessen Darstellung befindet, ist eine keineswegs behagliche. Wo
sind die schönen Tage, oder vielmehr Jahrzehnte, jene langen Epochen hin,
während deren die Rechtslehre sich in aller Ruhe eines stetigen Besitzes er¬
freuen konnte? Bald hier, bald dort fährt ihr die Gesetzgebung auf den Leib.
Tiefe Wunden fühlt sie sich geschlagen und noch schlimmere drohen von allen
Seiten für die nächste Zukunft. Wer will da erstaunen, wenn man zumeist
in den Kreisen der gelehrten Theoretiker, aber auch in den Kreisen der
Praktiker leicht einer Stimmung begegnet, die sich bald in melancholischen,
bald in cholerischen Klagegesängen wider die Ueberstürzung der Gesetzgebung
Luft macht. Hat man doch selbst im Reichstage deren manchmal vernommen.
Noch jüngst hat sich Herr Reichensperger, als rückwärtsblickender Seher, be¬
müht, durch einige weise Betrachtungen das rollende Rad der Nechtsneuerun-
gen aufzuhalten.

Es ist nicht unsere Absicht, hier die Bundesgesetzgebung zu vertheidigen
oder kritisch prüfen zu helfen. Daß nicht Alles gut ist, was sie bis jetzt ge¬
liefert hat, mag zugegeben werden; nicht minder, daß manches zu hastig, dem
Inhalte und der Form nach wenig fertig zum Vorschein gekommen ist. Wir
können wünschen, das solle sich künftig bessern. Allein soviel erscheint ausge¬
macht: die Reichsgesetzgebung muß weiter vorwärts gehen, sie muß die be¬
gonnene Umgestaltung des Rechts fortsetzen. Sie muß es, nicht blos weil
sie einmal begonnen, sondern weil sie der Nation die Erfüllung der berech-
tigsten Forderung schuldet, der Forderung nationaler Rechtseinheit in allen
den Zweigen, in denen das Bedürfniß Einheit erheischt. Und dieses Bedürf¬
niß ist so unabweislich, daß nach vielen Richtungen hin gewiß mit Recht
manche Mängel der Gesetzgebung verziehen werden, wenn sie vorerst wenig¬
stens an die Stelle einiger zwanzig verschiedener Particularrechte ein einziges
Gesetz stellt, von dem sich Jeder sagt, daß es als einheitliches Gesetz leicht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/211>, abgerufen am 24.07.2024.