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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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Jeder Kundige weiß, daß nicht der äußere Umfang allein 'über die Bedeut¬
samkeit entscheidet. Die vollständige Codification des Strafrechts oder die
nahezu vollständige Codification des Urheberrechts stellt Theoretiker und
Richter auf einen neuen Boden. Aber kaum minder weit reichende Betrach¬
tungen ergeben sich, wenn man die Bedeutung einer Mehrzahl verhältnißmä¬
ßig kurzer Specialgesetze näher verfolgt. Bei näherer Betrachtung erweisen
sich bald die in den Paragraphen oder Artikeln ausgesprochenen Sätze selbst,
bald die Principien, aus denen überhaupt das Gesetz entsprungen ist, von
solcher Tragweite, daß dadurch bei folgerichtiger Weiterbildung der seitherige
Rechtsbestand sehr eingreifenden Wandlungen unterliegen muß. In der That
kann sich schon nach diesen thatsächlichen Erfahrungen Niemand der Ueber¬
zeugung verschließen, wir gehen einer großen Umgestaltung des traditionellen
und bisher, wie bekannt, im Wesentlichen mit übergroßer Zähigkeit festgehal¬
tenen Rechts entgegen. In wenig Jahren aber wird es noch ganz anders
aussehen.

Die nächste Zukunft bereits soll eine neue Ordnung des Strafverfahrens
und des bürgerlichen Proceßverfahrens bringen. Von jener mag erwartet
werden, daß sie im großen Ganzen, da schon jetzt fast überall, mit Ausnahme
einiger mit dem Elend des alten Jnquisitionsprocesses beglückten Klein- oder
kleinsten Staaten, öffentlich-mündliches Anklageverfahren besteht, nichts Unge¬
wohntes weiter, als den Segen der Einheitlichkeit, bringen wird. Mit der
bürgerlichen Proceßordnung verhält es sich nicht so. Ein flüchtigster Blick in
die Entwürfe der Civilproceßcommission und nicht minder des Preußischen
Justizministeriums lehrt, wieviel Neues darin den deutschen Juristen zuge-
muthet wird. Nicht nur eine für die Meisten neue Procedur, sondern auch
eine ganze Reihe von Sätzen des sogenannten materiellen Proceßrechts, ja
sogar, was an sich nur erfreulich erscheint und nur noch ungleich häusiger
bei dieser Gelegenheit hätte geschehen sollen, geradezu des Civilrechts tritt uns
entgegen. Mit einem Schlage wird, kommt dieses Gesetz zu Stande, die den
jetzt lebenden Juristen anerzogene und durch Uebung gewohnte Proceßlehre
zusammen niedergerissen und etwas ganz Neues aufgebaut. Von demselben
Schlage aber wird zugleich ein erheblicher Theil des materiellen Civilrechts
betroffen. Auch wenn nicht direct daran durch die Proceßordnung mit refor-
mirt wurde, mußte doch schon das Civilrecht den gewaltigen Einfluß der
völligen Umwandlung des Processes erfahren. Stehen doch Inhalt und
Form, das nach dem materiellen Gesetz gegebene Recht und die Verkörperung
desselben als Klag- oder Einredeanspruch in der gerichtlichen Geltendmachung
nothwendig in dem innigsten Zusammenhang. Nur der einseitigste Pandectist,
der von der praktischer Ausübung und Durchführung seiner Doctrin keine
Ahnung hat, kann das Civilrecht und den Proceß als getrennte Gebiete so


Jeder Kundige weiß, daß nicht der äußere Umfang allein 'über die Bedeut¬
samkeit entscheidet. Die vollständige Codification des Strafrechts oder die
nahezu vollständige Codification des Urheberrechts stellt Theoretiker und
Richter auf einen neuen Boden. Aber kaum minder weit reichende Betrach¬
tungen ergeben sich, wenn man die Bedeutung einer Mehrzahl verhältnißmä¬
ßig kurzer Specialgesetze näher verfolgt. Bei näherer Betrachtung erweisen
sich bald die in den Paragraphen oder Artikeln ausgesprochenen Sätze selbst,
bald die Principien, aus denen überhaupt das Gesetz entsprungen ist, von
solcher Tragweite, daß dadurch bei folgerichtiger Weiterbildung der seitherige
Rechtsbestand sehr eingreifenden Wandlungen unterliegen muß. In der That
kann sich schon nach diesen thatsächlichen Erfahrungen Niemand der Ueber¬
zeugung verschließen, wir gehen einer großen Umgestaltung des traditionellen
und bisher, wie bekannt, im Wesentlichen mit übergroßer Zähigkeit festgehal¬
tenen Rechts entgegen. In wenig Jahren aber wird es noch ganz anders
aussehen.

Die nächste Zukunft bereits soll eine neue Ordnung des Strafverfahrens
und des bürgerlichen Proceßverfahrens bringen. Von jener mag erwartet
werden, daß sie im großen Ganzen, da schon jetzt fast überall, mit Ausnahme
einiger mit dem Elend des alten Jnquisitionsprocesses beglückten Klein- oder
kleinsten Staaten, öffentlich-mündliches Anklageverfahren besteht, nichts Unge¬
wohntes weiter, als den Segen der Einheitlichkeit, bringen wird. Mit der
bürgerlichen Proceßordnung verhält es sich nicht so. Ein flüchtigster Blick in
die Entwürfe der Civilproceßcommission und nicht minder des Preußischen
Justizministeriums lehrt, wieviel Neues darin den deutschen Juristen zuge-
muthet wird. Nicht nur eine für die Meisten neue Procedur, sondern auch
eine ganze Reihe von Sätzen des sogenannten materiellen Proceßrechts, ja
sogar, was an sich nur erfreulich erscheint und nur noch ungleich häusiger
bei dieser Gelegenheit hätte geschehen sollen, geradezu des Civilrechts tritt uns
entgegen. Mit einem Schlage wird, kommt dieses Gesetz zu Stande, die den
jetzt lebenden Juristen anerzogene und durch Uebung gewohnte Proceßlehre
zusammen niedergerissen und etwas ganz Neues aufgebaut. Von demselben
Schlage aber wird zugleich ein erheblicher Theil des materiellen Civilrechts
betroffen. Auch wenn nicht direct daran durch die Proceßordnung mit refor-
mirt wurde, mußte doch schon das Civilrecht den gewaltigen Einfluß der
völligen Umwandlung des Processes erfahren. Stehen doch Inhalt und
Form, das nach dem materiellen Gesetz gegebene Recht und die Verkörperung
desselben als Klag- oder Einredeanspruch in der gerichtlichen Geltendmachung
nothwendig in dem innigsten Zusammenhang. Nur der einseitigste Pandectist,
der von der praktischer Ausübung und Durchführung seiner Doctrin keine
Ahnung hat, kann das Civilrecht und den Proceß als getrennte Gebiete so


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[0210] Jeder Kundige weiß, daß nicht der äußere Umfang allein 'über die Bedeut¬ samkeit entscheidet. Die vollständige Codification des Strafrechts oder die nahezu vollständige Codification des Urheberrechts stellt Theoretiker und Richter auf einen neuen Boden. Aber kaum minder weit reichende Betrach¬ tungen ergeben sich, wenn man die Bedeutung einer Mehrzahl verhältnißmä¬ ßig kurzer Specialgesetze näher verfolgt. Bei näherer Betrachtung erweisen sich bald die in den Paragraphen oder Artikeln ausgesprochenen Sätze selbst, bald die Principien, aus denen überhaupt das Gesetz entsprungen ist, von solcher Tragweite, daß dadurch bei folgerichtiger Weiterbildung der seitherige Rechtsbestand sehr eingreifenden Wandlungen unterliegen muß. In der That kann sich schon nach diesen thatsächlichen Erfahrungen Niemand der Ueber¬ zeugung verschließen, wir gehen einer großen Umgestaltung des traditionellen und bisher, wie bekannt, im Wesentlichen mit übergroßer Zähigkeit festgehal¬ tenen Rechts entgegen. In wenig Jahren aber wird es noch ganz anders aussehen. Die nächste Zukunft bereits soll eine neue Ordnung des Strafverfahrens und des bürgerlichen Proceßverfahrens bringen. Von jener mag erwartet werden, daß sie im großen Ganzen, da schon jetzt fast überall, mit Ausnahme einiger mit dem Elend des alten Jnquisitionsprocesses beglückten Klein- oder kleinsten Staaten, öffentlich-mündliches Anklageverfahren besteht, nichts Unge¬ wohntes weiter, als den Segen der Einheitlichkeit, bringen wird. Mit der bürgerlichen Proceßordnung verhält es sich nicht so. Ein flüchtigster Blick in die Entwürfe der Civilproceßcommission und nicht minder des Preußischen Justizministeriums lehrt, wieviel Neues darin den deutschen Juristen zuge- muthet wird. Nicht nur eine für die Meisten neue Procedur, sondern auch eine ganze Reihe von Sätzen des sogenannten materiellen Proceßrechts, ja sogar, was an sich nur erfreulich erscheint und nur noch ungleich häusiger bei dieser Gelegenheit hätte geschehen sollen, geradezu des Civilrechts tritt uns entgegen. Mit einem Schlage wird, kommt dieses Gesetz zu Stande, die den jetzt lebenden Juristen anerzogene und durch Uebung gewohnte Proceßlehre zusammen niedergerissen und etwas ganz Neues aufgebaut. Von demselben Schlage aber wird zugleich ein erheblicher Theil des materiellen Civilrechts betroffen. Auch wenn nicht direct daran durch die Proceßordnung mit refor- mirt wurde, mußte doch schon das Civilrecht den gewaltigen Einfluß der völligen Umwandlung des Processes erfahren. Stehen doch Inhalt und Form, das nach dem materiellen Gesetz gegebene Recht und die Verkörperung desselben als Klag- oder Einredeanspruch in der gerichtlichen Geltendmachung nothwendig in dem innigsten Zusammenhang. Nur der einseitigste Pandectist, der von der praktischer Ausübung und Durchführung seiner Doctrin keine Ahnung hat, kann das Civilrecht und den Proceß als getrennte Gebiete so

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/210>, abgerufen am 24.07.2024.