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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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Uebrigens was uns schon bei Homer mit der Göttermaschinerie aussöhnt, die,
ich möchte sagen, keusche Anwendung derselben, das finden wir auch bei
Jordan. Wohl wirft die Königin Guta einen Liebeszauber in den Becher,
den Chriemhild dem Sigfried kredenzt. Aber der Dichter verweilt nicht bei
dem Liebeszauber im Becher, vielmehr bei dem Liebeszauber, der aus Chriem-
hild's Augen strahlt. Daher lassen wir uns den Zauber eben so gefallen,
wie bei Homer im IV. Gesang der Odyssee, wo Helena ein allen Kummer
verscheuchendes Zaubermittel in den Trank thut, welchen Telemach, ihr Gast,
trinkt, dann aber doch eigentlich durch ihre herrliche Erscheinung und durch
ihre passenden Reden den schwermüthigen Jüngling heilt und erheitert. Diese
Zaubermittel, diese Götter u. s. w. was sind sie anders, als das Product
des richtigen, poetischen Jnstinctes, der vor nichts so sehr zurückbebt als vor
bloßen Abstractionen, und dieselben, wo sie ihm unvermeidlich erscheinen, zu
glänzenden Gestalten verdichtet? --

Diese letztere Betrachtung leitet uns hinüber zur Schönheit der Dichtung
in ihren Einzelheiten. Ist Jordan ein Meister im Aufbau, in der Structur
des Ganzen, so ist das immerhin eine Meisterschaft, die sich dem ungeübten
Auge nicht so leicht offenbart. Hier aber, wo er in Schilderungen, sei es
auf dem Gebiete der äußeren Natur oder auf dem ihr analogen Gebiete des
inwendigen Menschen, das volle Leben zu fassen und wiederzugeben weiß,
offenbart sich seine einzigartige Dichterkraft so gewaltig und so glänzend,
daß denn auch hier Alle, die ihm sonst vielleicht nicht gerecht werden, ihm
die Krone mit Bewunderung reichen. Man glaubt, wenn man Jordan's
Schilderungen hört oder liest, die meisten andern Dichter wären Blindgebo¬
rene, die das volle Leben nur vom Hörensagen kennten und dessen Formen
deßhalb in herkömmlichen, technischen Ausdrücken beschrieben, welche zuletzt
Schablone wurden. Nur Homer hat noch diese kraftvolle Plastik; bei ihm
hat sie Jordan erlauscht, und etwa auch an den Volksliedern, wo sie zwar
selten das ganze Lied hindurch anhält, aber wie ein aus der Wolkennacht
zuckender energischer Blitz doch auf Augenblicke ungemein entschieden Lage und
Handlung zeichnet.

Wie Jordan den Homer kennt, wissen wir bereits; er sagt uns auch in
jener schon öfter angeführten Abhandlung geradezu, daß seit seinem zwölften
Jahre selten ein Tag vergangen, ohne daß er die Odyssee im Original gelesen
habe/ Der beste Beweis von Jordans Sinn für das Volkslied sind seine
lithauischen Volkslieder und Sagen, welche er im Jahr 1844 bei I. Sprin¬
ger hat erscheinen lassen, ein kleines Bändchen mit goldenen Liedern, welche
hier allen Freunden des Volksliedes, auch den componirenden Musikern em¬
pfohlen sein mögen.

Aber bloße Nachahmung Homers und des volksmäßigen Tones hätte


Grenzboten II. 1K71. 23

Uebrigens was uns schon bei Homer mit der Göttermaschinerie aussöhnt, die,
ich möchte sagen, keusche Anwendung derselben, das finden wir auch bei
Jordan. Wohl wirft die Königin Guta einen Liebeszauber in den Becher,
den Chriemhild dem Sigfried kredenzt. Aber der Dichter verweilt nicht bei
dem Liebeszauber im Becher, vielmehr bei dem Liebeszauber, der aus Chriem-
hild's Augen strahlt. Daher lassen wir uns den Zauber eben so gefallen,
wie bei Homer im IV. Gesang der Odyssee, wo Helena ein allen Kummer
verscheuchendes Zaubermittel in den Trank thut, welchen Telemach, ihr Gast,
trinkt, dann aber doch eigentlich durch ihre herrliche Erscheinung und durch
ihre passenden Reden den schwermüthigen Jüngling heilt und erheitert. Diese
Zaubermittel, diese Götter u. s. w. was sind sie anders, als das Product
des richtigen, poetischen Jnstinctes, der vor nichts so sehr zurückbebt als vor
bloßen Abstractionen, und dieselben, wo sie ihm unvermeidlich erscheinen, zu
glänzenden Gestalten verdichtet? —

Diese letztere Betrachtung leitet uns hinüber zur Schönheit der Dichtung
in ihren Einzelheiten. Ist Jordan ein Meister im Aufbau, in der Structur
des Ganzen, so ist das immerhin eine Meisterschaft, die sich dem ungeübten
Auge nicht so leicht offenbart. Hier aber, wo er in Schilderungen, sei es
auf dem Gebiete der äußeren Natur oder auf dem ihr analogen Gebiete des
inwendigen Menschen, das volle Leben zu fassen und wiederzugeben weiß,
offenbart sich seine einzigartige Dichterkraft so gewaltig und so glänzend,
daß denn auch hier Alle, die ihm sonst vielleicht nicht gerecht werden, ihm
die Krone mit Bewunderung reichen. Man glaubt, wenn man Jordan's
Schilderungen hört oder liest, die meisten andern Dichter wären Blindgebo¬
rene, die das volle Leben nur vom Hörensagen kennten und dessen Formen
deßhalb in herkömmlichen, technischen Ausdrücken beschrieben, welche zuletzt
Schablone wurden. Nur Homer hat noch diese kraftvolle Plastik; bei ihm
hat sie Jordan erlauscht, und etwa auch an den Volksliedern, wo sie zwar
selten das ganze Lied hindurch anhält, aber wie ein aus der Wolkennacht
zuckender energischer Blitz doch auf Augenblicke ungemein entschieden Lage und
Handlung zeichnet.

Wie Jordan den Homer kennt, wissen wir bereits; er sagt uns auch in
jener schon öfter angeführten Abhandlung geradezu, daß seit seinem zwölften
Jahre selten ein Tag vergangen, ohne daß er die Odyssee im Original gelesen
habe/ Der beste Beweis von Jordans Sinn für das Volkslied sind seine
lithauischen Volkslieder und Sagen, welche er im Jahr 1844 bei I. Sprin¬
ger hat erscheinen lassen, ein kleines Bändchen mit goldenen Liedern, welche
hier allen Freunden des Volksliedes, auch den componirenden Musikern em¬
pfohlen sein mögen.

Aber bloße Nachahmung Homers und des volksmäßigen Tones hätte


Grenzboten II. 1K71. 23
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[0185] Uebrigens was uns schon bei Homer mit der Göttermaschinerie aussöhnt, die, ich möchte sagen, keusche Anwendung derselben, das finden wir auch bei Jordan. Wohl wirft die Königin Guta einen Liebeszauber in den Becher, den Chriemhild dem Sigfried kredenzt. Aber der Dichter verweilt nicht bei dem Liebeszauber im Becher, vielmehr bei dem Liebeszauber, der aus Chriem- hild's Augen strahlt. Daher lassen wir uns den Zauber eben so gefallen, wie bei Homer im IV. Gesang der Odyssee, wo Helena ein allen Kummer verscheuchendes Zaubermittel in den Trank thut, welchen Telemach, ihr Gast, trinkt, dann aber doch eigentlich durch ihre herrliche Erscheinung und durch ihre passenden Reden den schwermüthigen Jüngling heilt und erheitert. Diese Zaubermittel, diese Götter u. s. w. was sind sie anders, als das Product des richtigen, poetischen Jnstinctes, der vor nichts so sehr zurückbebt als vor bloßen Abstractionen, und dieselben, wo sie ihm unvermeidlich erscheinen, zu glänzenden Gestalten verdichtet? — Diese letztere Betrachtung leitet uns hinüber zur Schönheit der Dichtung in ihren Einzelheiten. Ist Jordan ein Meister im Aufbau, in der Structur des Ganzen, so ist das immerhin eine Meisterschaft, die sich dem ungeübten Auge nicht so leicht offenbart. Hier aber, wo er in Schilderungen, sei es auf dem Gebiete der äußeren Natur oder auf dem ihr analogen Gebiete des inwendigen Menschen, das volle Leben zu fassen und wiederzugeben weiß, offenbart sich seine einzigartige Dichterkraft so gewaltig und so glänzend, daß denn auch hier Alle, die ihm sonst vielleicht nicht gerecht werden, ihm die Krone mit Bewunderung reichen. Man glaubt, wenn man Jordan's Schilderungen hört oder liest, die meisten andern Dichter wären Blindgebo¬ rene, die das volle Leben nur vom Hörensagen kennten und dessen Formen deßhalb in herkömmlichen, technischen Ausdrücken beschrieben, welche zuletzt Schablone wurden. Nur Homer hat noch diese kraftvolle Plastik; bei ihm hat sie Jordan erlauscht, und etwa auch an den Volksliedern, wo sie zwar selten das ganze Lied hindurch anhält, aber wie ein aus der Wolkennacht zuckender energischer Blitz doch auf Augenblicke ungemein entschieden Lage und Handlung zeichnet. Wie Jordan den Homer kennt, wissen wir bereits; er sagt uns auch in jener schon öfter angeführten Abhandlung geradezu, daß seit seinem zwölften Jahre selten ein Tag vergangen, ohne daß er die Odyssee im Original gelesen habe/ Der beste Beweis von Jordans Sinn für das Volkslied sind seine lithauischen Volkslieder und Sagen, welche er im Jahr 1844 bei I. Sprin¬ ger hat erscheinen lassen, ein kleines Bändchen mit goldenen Liedern, welche hier allen Freunden des Volksliedes, auch den componirenden Musikern em¬ pfohlen sein mögen. Aber bloße Nachahmung Homers und des volksmäßigen Tones hätte Grenzboten II. 1K71. 23

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/185>, abgerufen am 24.07.2024.