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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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Gesang lernen können. Ein Volk, dessen Nerven solche Poesie der dem Tod
ins Angesicht lachenden, fürchterlichsten Thatkraft ertragen, wird niemals ein
unkriegerisches sein. Was auch Tyrtäus seinen Spartern gesungen haben
mag, -- wir haben ja Reste davon, -- erscheint beinahe sentimental im Ver¬
gleich mit dem Heldenhumor der schauerlich schönen Sage von Sinsiötli. --
Ein besonders feiner Kunstgriff Jordans ist, daß er die Göttergeschichten
meistens in die Episode hineinverlegt. Diese uralten heidnischen Mythen
würden allerdings im Munde des Dichters unserm Ohre seltsam klingen.
Daher läßt sie Jordan nicht aus seinem Munde dringen. Er wählt sich
einen Sagemund, und verschwindet selbst hinter einem zweiten Vorhang.
Denn nicht aus demselben Erzählermunde, der überall den höchsten Schein
der Naturgemäßheit, Anschaulichkeit und Plasticität erstrebt und erreicht, der die
volle Illusion zu erwecken weiß, als geschähe, was wir hören, genau so in
allernatürlichster Weise vor unsern Augen, -- nicht formell aus demselben
Munde darf das Unmögliche, Traum- und Arabeskenartige fließen; um in
der Illusion zu bleiben, dürfen wir diese fabelhaften Dinge weder direct wie
aus dem Nhapsodenmunde, noch auch direct mit unsern selbsteigenen Ohren
vernehmen, sondern es müssen uns dazu erst die.Ohren der märchenlustigen
Phäaken sammt ihrem Gemüth vor unsere Ohren vorgesetzt werden.")

So kommt dem Epiker auch jener große Vortheil zu Statten, dessen der
Dramatiker sich zuweilen so glücklich bedient, der Vortheil einer Bühne auf
der Bühne, eines Theaters in der zweiten Potenz. Man erinnre sich, was
Shakespeare damit im Hamlet und im Sommernachtstraum ausrichtet. Hier"
mit ist auch die Frage gelöst, ob wir denn'noch an Wodan u. s. w.
glauben können und ob uns der Dichter dergleichen bieten dürfe. Wir für
uns, als eben so viele Glieder der modernen Gesellschaft, brauchen allerdings
nicht an Walhall und die Einherier zu glauben; aber mit dem Gemüth der
vor uns neuerstehenden Vorfahren glauben wir daran und wissen und verstehen
es, wie und warum jene Vorstellungen von den Kampfes- und Tafelfreuden
in den Sälen Wodans lebens bestimm end gewesen sind für die Ahnen. --

Bleiben somit Jordan's Göttermythen unbeanstandet, so darf ich immer¬
hin nicht unterlassen, hier auszusprechen, daß unsere Zeit nun einmal so
durchaus an die Stelle des Wunderbaren die psychologische Durchführung des
Charakters gesetzt haben will, daß ihm selbst Homer schöner erscheinen würde,
wenn die Göttermaschinerie weniger oft in die Handlungen der Menschen ein-
griffe. Ein Epos ohne Himmel und Hölle scheint zwar bis jetzt noch eine
Unmöglichkeit; es wäre aber ein solches doch denkbar aus dem Ringen un¬
serer Zeit heraus, die, wie der Niese Antäus, stark auf dem Irdischen steht.



') Jordan, Kunstgesch Homers, pag. 19.

Gesang lernen können. Ein Volk, dessen Nerven solche Poesie der dem Tod
ins Angesicht lachenden, fürchterlichsten Thatkraft ertragen, wird niemals ein
unkriegerisches sein. Was auch Tyrtäus seinen Spartern gesungen haben
mag, — wir haben ja Reste davon, — erscheint beinahe sentimental im Ver¬
gleich mit dem Heldenhumor der schauerlich schönen Sage von Sinsiötli. —
Ein besonders feiner Kunstgriff Jordans ist, daß er die Göttergeschichten
meistens in die Episode hineinverlegt. Diese uralten heidnischen Mythen
würden allerdings im Munde des Dichters unserm Ohre seltsam klingen.
Daher läßt sie Jordan nicht aus seinem Munde dringen. Er wählt sich
einen Sagemund, und verschwindet selbst hinter einem zweiten Vorhang.
Denn nicht aus demselben Erzählermunde, der überall den höchsten Schein
der Naturgemäßheit, Anschaulichkeit und Plasticität erstrebt und erreicht, der die
volle Illusion zu erwecken weiß, als geschähe, was wir hören, genau so in
allernatürlichster Weise vor unsern Augen, — nicht formell aus demselben
Munde darf das Unmögliche, Traum- und Arabeskenartige fließen; um in
der Illusion zu bleiben, dürfen wir diese fabelhaften Dinge weder direct wie
aus dem Nhapsodenmunde, noch auch direct mit unsern selbsteigenen Ohren
vernehmen, sondern es müssen uns dazu erst die.Ohren der märchenlustigen
Phäaken sammt ihrem Gemüth vor unsere Ohren vorgesetzt werden.")

So kommt dem Epiker auch jener große Vortheil zu Statten, dessen der
Dramatiker sich zuweilen so glücklich bedient, der Vortheil einer Bühne auf
der Bühne, eines Theaters in der zweiten Potenz. Man erinnre sich, was
Shakespeare damit im Hamlet und im Sommernachtstraum ausrichtet. Hier«
mit ist auch die Frage gelöst, ob wir denn'noch an Wodan u. s. w.
glauben können und ob uns der Dichter dergleichen bieten dürfe. Wir für
uns, als eben so viele Glieder der modernen Gesellschaft, brauchen allerdings
nicht an Walhall und die Einherier zu glauben; aber mit dem Gemüth der
vor uns neuerstehenden Vorfahren glauben wir daran und wissen und verstehen
es, wie und warum jene Vorstellungen von den Kampfes- und Tafelfreuden
in den Sälen Wodans lebens bestimm end gewesen sind für die Ahnen. —

Bleiben somit Jordan's Göttermythen unbeanstandet, so darf ich immer¬
hin nicht unterlassen, hier auszusprechen, daß unsere Zeit nun einmal so
durchaus an die Stelle des Wunderbaren die psychologische Durchführung des
Charakters gesetzt haben will, daß ihm selbst Homer schöner erscheinen würde,
wenn die Göttermaschinerie weniger oft in die Handlungen der Menschen ein-
griffe. Ein Epos ohne Himmel und Hölle scheint zwar bis jetzt noch eine
Unmöglichkeit; es wäre aber ein solches doch denkbar aus dem Ringen un¬
serer Zeit heraus, die, wie der Niese Antäus, stark auf dem Irdischen steht.



') Jordan, Kunstgesch Homers, pag. 19.
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[0184] Gesang lernen können. Ein Volk, dessen Nerven solche Poesie der dem Tod ins Angesicht lachenden, fürchterlichsten Thatkraft ertragen, wird niemals ein unkriegerisches sein. Was auch Tyrtäus seinen Spartern gesungen haben mag, — wir haben ja Reste davon, — erscheint beinahe sentimental im Ver¬ gleich mit dem Heldenhumor der schauerlich schönen Sage von Sinsiötli. — Ein besonders feiner Kunstgriff Jordans ist, daß er die Göttergeschichten meistens in die Episode hineinverlegt. Diese uralten heidnischen Mythen würden allerdings im Munde des Dichters unserm Ohre seltsam klingen. Daher läßt sie Jordan nicht aus seinem Munde dringen. Er wählt sich einen Sagemund, und verschwindet selbst hinter einem zweiten Vorhang. Denn nicht aus demselben Erzählermunde, der überall den höchsten Schein der Naturgemäßheit, Anschaulichkeit und Plasticität erstrebt und erreicht, der die volle Illusion zu erwecken weiß, als geschähe, was wir hören, genau so in allernatürlichster Weise vor unsern Augen, — nicht formell aus demselben Munde darf das Unmögliche, Traum- und Arabeskenartige fließen; um in der Illusion zu bleiben, dürfen wir diese fabelhaften Dinge weder direct wie aus dem Nhapsodenmunde, noch auch direct mit unsern selbsteigenen Ohren vernehmen, sondern es müssen uns dazu erst die.Ohren der märchenlustigen Phäaken sammt ihrem Gemüth vor unsere Ohren vorgesetzt werden.") So kommt dem Epiker auch jener große Vortheil zu Statten, dessen der Dramatiker sich zuweilen so glücklich bedient, der Vortheil einer Bühne auf der Bühne, eines Theaters in der zweiten Potenz. Man erinnre sich, was Shakespeare damit im Hamlet und im Sommernachtstraum ausrichtet. Hier« mit ist auch die Frage gelöst, ob wir denn'noch an Wodan u. s. w. glauben können und ob uns der Dichter dergleichen bieten dürfe. Wir für uns, als eben so viele Glieder der modernen Gesellschaft, brauchen allerdings nicht an Walhall und die Einherier zu glauben; aber mit dem Gemüth der vor uns neuerstehenden Vorfahren glauben wir daran und wissen und verstehen es, wie und warum jene Vorstellungen von den Kampfes- und Tafelfreuden in den Sälen Wodans lebens bestimm end gewesen sind für die Ahnen. — Bleiben somit Jordan's Göttermythen unbeanstandet, so darf ich immer¬ hin nicht unterlassen, hier auszusprechen, daß unsere Zeit nun einmal so durchaus an die Stelle des Wunderbaren die psychologische Durchführung des Charakters gesetzt haben will, daß ihm selbst Homer schöner erscheinen würde, wenn die Göttermaschinerie weniger oft in die Handlungen der Menschen ein- griffe. Ein Epos ohne Himmel und Hölle scheint zwar bis jetzt noch eine Unmöglichkeit; es wäre aber ein solches doch denkbar aus dem Ringen un¬ serer Zeit heraus, die, wie der Niese Antäus, stark auf dem Irdischen steht. ') Jordan, Kunstgesch Homers, pag. 19.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/184>, abgerufen am 24.07.2024.