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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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dieses Kunstgesetz fremd war, keine ächten Meisterwerke zu liefern vermocht.
Wolfram v. Eschenbach und Gottfried von Straßburg beginnen nicht
nur mit der Geburt ihres Helden, nein noch mit der Geburt der Eltern
des Helden. .Da flattert dann am dünnen chronologischen Faden die
Handlung nach allen Richtungen auseinander. So ist es auch in der Gu-
drun und in den Nibelungen. Homer dagegen hat concentrirt; die Heimkehr
des Odysseus mit den vielen Abenteuern verläuft nicht nur historisch, nicht
Abenteuer auf Abenteuer, sondern, nachdem uns die vier ersten Gesänge mit
Ithaka u. s. w. bekannt gemacht haben, sehen wir Odysseus von Kalypso
fortziehen und alsbald bei den Phäaken anlangen, wo der einheitliche Ruhe¬
punkt erreicht ist, von wo aus die vorhergegangenen Abenteuer, welche der
Dulder selbst erzählt, so wie die noch ausstehenden in der Heimath leicht zu
überschauen sind. So macht es Jordan in seinen Nibelungen. Im zweiten
Gesang schon sind wir in Worms auf dem Söller des Königspallastes, wo
der Sänger Horand uns mit der Vorgeschichte aller derer, die unser Interesse
erregen, wie durch Zufall bekannt macht, während bereits vom Rheine her
soeben Sigfried anlangt und auf diese Weise Vergangenheit und Zukunft in
der behaglich ausgestreckten, ächt epischen Gegenwart sich berühren. Das ist
die wahre Künstlerarbeit, so trefflich ineinander greifend wie eine Fuge des
alten Lach. Und diese innere Einheit herrscht überall. Die zahlreichen Epi¬
soden, weit entfernt zu stören, geben vielmehr sehr oft den wirksamsten Hinter¬
grund für die Haupthandlung ab und wirken in ähnlicher Weise erhebend,
wie die in einer Säulenhalle oder im Kreuzgang eines Münsters sich eröff¬
nenden Blicke in die perspectivisch verschwindenden Seitengänge. Als Beispiel
führen wir nur an die durch wilde, rauhe Naturkraft und schauerliche Ein¬
zelheiten fast grauenhaft wirkende Episode von Brunhilds Ahnherrn Sinfiötli.
Diese Episode ist wohl im ganzen Gedichte das für unser modernes Gefühl
am wenigsten verständliche, das entlegenste. Aber wir möchten sie um keinen
Preis gerade dort missen, wo sie steht. Sie wird nämlich der Brunhilde in
jener Nacht erzählt, welche dem uns gleichfalls fremd anmuthenden Wett¬
kampfe der speerkundigen Jungfrau mit Günther vorausgeht. Diesem Kampfe
dient sie als dunkelste Folie. Das Stück aus der alten Völsungasaga ent¬
hält so furchtbare, so hünenhafte Züge, daß wir nachher ganz natürlich
finden, wenn die einem solchen Geschlecht entsprossene Jungfrau mit den
Waffen um sich freien läßt; sie erscheint uns ganz nahe gerückt, ganz mensch¬
lich vertraut, nachdem wir die titanenhafte Sage ihres Hauses kennen. Uebn-
gens ist diese Sage auch an und für sich ein Juwel durch den hohen Humor
männlichster Kraft, der darin zu einem so wilden Päan anschwillt, wie wir
einen ähnlichen in der Literatur keines Volkes kennen. Wer etwa nicht hätte
glauben wollen, daß die Deutschen vor Paris rücken und den Krieg sicher
und unerbittlich streng bis ans Ende führen würden, der hätte es aus diesem


dieses Kunstgesetz fremd war, keine ächten Meisterwerke zu liefern vermocht.
Wolfram v. Eschenbach und Gottfried von Straßburg beginnen nicht
nur mit der Geburt ihres Helden, nein noch mit der Geburt der Eltern
des Helden. .Da flattert dann am dünnen chronologischen Faden die
Handlung nach allen Richtungen auseinander. So ist es auch in der Gu-
drun und in den Nibelungen. Homer dagegen hat concentrirt; die Heimkehr
des Odysseus mit den vielen Abenteuern verläuft nicht nur historisch, nicht
Abenteuer auf Abenteuer, sondern, nachdem uns die vier ersten Gesänge mit
Ithaka u. s. w. bekannt gemacht haben, sehen wir Odysseus von Kalypso
fortziehen und alsbald bei den Phäaken anlangen, wo der einheitliche Ruhe¬
punkt erreicht ist, von wo aus die vorhergegangenen Abenteuer, welche der
Dulder selbst erzählt, so wie die noch ausstehenden in der Heimath leicht zu
überschauen sind. So macht es Jordan in seinen Nibelungen. Im zweiten
Gesang schon sind wir in Worms auf dem Söller des Königspallastes, wo
der Sänger Horand uns mit der Vorgeschichte aller derer, die unser Interesse
erregen, wie durch Zufall bekannt macht, während bereits vom Rheine her
soeben Sigfried anlangt und auf diese Weise Vergangenheit und Zukunft in
der behaglich ausgestreckten, ächt epischen Gegenwart sich berühren. Das ist
die wahre Künstlerarbeit, so trefflich ineinander greifend wie eine Fuge des
alten Lach. Und diese innere Einheit herrscht überall. Die zahlreichen Epi¬
soden, weit entfernt zu stören, geben vielmehr sehr oft den wirksamsten Hinter¬
grund für die Haupthandlung ab und wirken in ähnlicher Weise erhebend,
wie die in einer Säulenhalle oder im Kreuzgang eines Münsters sich eröff¬
nenden Blicke in die perspectivisch verschwindenden Seitengänge. Als Beispiel
führen wir nur an die durch wilde, rauhe Naturkraft und schauerliche Ein¬
zelheiten fast grauenhaft wirkende Episode von Brunhilds Ahnherrn Sinfiötli.
Diese Episode ist wohl im ganzen Gedichte das für unser modernes Gefühl
am wenigsten verständliche, das entlegenste. Aber wir möchten sie um keinen
Preis gerade dort missen, wo sie steht. Sie wird nämlich der Brunhilde in
jener Nacht erzählt, welche dem uns gleichfalls fremd anmuthenden Wett¬
kampfe der speerkundigen Jungfrau mit Günther vorausgeht. Diesem Kampfe
dient sie als dunkelste Folie. Das Stück aus der alten Völsungasaga ent¬
hält so furchtbare, so hünenhafte Züge, daß wir nachher ganz natürlich
finden, wenn die einem solchen Geschlecht entsprossene Jungfrau mit den
Waffen um sich freien läßt; sie erscheint uns ganz nahe gerückt, ganz mensch¬
lich vertraut, nachdem wir die titanenhafte Sage ihres Hauses kennen. Uebn-
gens ist diese Sage auch an und für sich ein Juwel durch den hohen Humor
männlichster Kraft, der darin zu einem so wilden Päan anschwillt, wie wir
einen ähnlichen in der Literatur keines Volkes kennen. Wer etwa nicht hätte
glauben wollen, daß die Deutschen vor Paris rücken und den Krieg sicher
und unerbittlich streng bis ans Ende führen würden, der hätte es aus diesem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/183>, abgerufen am 24.07.2024.