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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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fischen Ritterlichkeit sich nicht die leiseste Spur findet. Ihren Zweck, die Po¬
pularität des Königs zu untergraben, erreichten diese Angriffe auch vollkom¬
men. Ludwig Philipp war ein guter Haushalter und ging in seiner Sorge
für Erhaltung und Erweiterung des Familienbesitzes oft über das Maß dessen,
was die öffentliche Meinung dem Könige gestattete, hinaus; aber die Schil¬
derungen, die außer der Tagespresse, mit besonders raffinirter Bosheit Cor-
menin, ein leidenschaftlicher Feind der Dynastie, von seiner schmutzigen Hab¬
gier entwarf, waren maßlos übertrieben; indessen je stärker die Farben auf¬
getragen wurden, um so leichter fanden die Verleumdungen bei den Massen
Eingang; je boshafter und giftiger die Anspielungen waren, um so mehr
schmeichelten sie der Spottlust und dem Esprit der gebildeten Klassen, die
selbst, wenn sie gut orleanistisch gesinnt waren, doch nach alter Gewohnheit
am Frondiren und am Scandal Gefallen fanden, gerade wie die großen
Herren des -meion ivAmv sich an der polemischen Literatur des achtzehnten
Jahrhunderts ergötzt hatten. Die Gerichte gewährten weder der Regierung,
noch dem Könige persönlichen Schutz, da in den politischen Processen die
scandalösesten Freisprechungen an der Tagesordnung waren. Freisprechungen,
welche gerade den gebildeten Classen ein äußerst ungünstiges Zeugniß auf¬
stellten; strenge Urtheile erfolgten eigentlich nur, wenn gerade nach Unter¬
drückung einer Emeute die öffentliche Meinung augenblicklich gegen die un¬
verbesserlichen Anarchisten erbittert war und der Sieg der Regierung auch den
Muth der Richter und Geschwornen über das gewöhnliche Maß hinaufge¬
schraubt hatte, und ihnen gestattete, ihrem Rechtsgefühl, das zugleich mit
ihren conservativen Neigungen übereinstimmte, zu folgen. Denn Geschworene
und Richter gehörten fast durchweg der Widerstandspartei an; sie verlangten
von der Regierung Energie; aber die Zumuthung, die Verantwortung für
die Energie mit der Regierung zu theilen, schien ihnen empörend. Die Furcht
vor der Revolution benahm der Bourgeoisie den Muth, ihre Schuldigkeit zu
thun, steigerte aber ihre Anforderungen an den Muth der Negierung.

Und das um so mehr, je augenscheinlicher es war, daß in der repu¬
blikanischen Partei die socialistischen Tendenzen Boden gewonnen hatten. Es
war dies ganz natürlich zugegangen. Für eine Idealrepublik, wie sie der
gebildeten Jugend vorschwebte, vermochte sich die Arbeiterbevölkerung nicht zu
begeistern. Um sie zu gewinnen, kam es darauf an, die sociale Frage in
Fluß zu bringen, die socialistischen Theorien, deren wir im vorigen Artikel
Erwähnung gethan haben, in einige zum Theil stark communistisch gefärbte
praktische Sätze zusammen zu fassen, sie auf diese Weise den Massen verständ¬
lich zu machen und durch sie die Begehrlichkeit derselben zu entflammen.
Diese communistisch - socialistische Wendung entsprach den Wünschen der ge¬
mäßigten Republikaner von der Farbe Armand Carrels sehr wenig. Aber


fischen Ritterlichkeit sich nicht die leiseste Spur findet. Ihren Zweck, die Po¬
pularität des Königs zu untergraben, erreichten diese Angriffe auch vollkom¬
men. Ludwig Philipp war ein guter Haushalter und ging in seiner Sorge
für Erhaltung und Erweiterung des Familienbesitzes oft über das Maß dessen,
was die öffentliche Meinung dem Könige gestattete, hinaus; aber die Schil¬
derungen, die außer der Tagespresse, mit besonders raffinirter Bosheit Cor-
menin, ein leidenschaftlicher Feind der Dynastie, von seiner schmutzigen Hab¬
gier entwarf, waren maßlos übertrieben; indessen je stärker die Farben auf¬
getragen wurden, um so leichter fanden die Verleumdungen bei den Massen
Eingang; je boshafter und giftiger die Anspielungen waren, um so mehr
schmeichelten sie der Spottlust und dem Esprit der gebildeten Klassen, die
selbst, wenn sie gut orleanistisch gesinnt waren, doch nach alter Gewohnheit
am Frondiren und am Scandal Gefallen fanden, gerade wie die großen
Herren des -meion ivAmv sich an der polemischen Literatur des achtzehnten
Jahrhunderts ergötzt hatten. Die Gerichte gewährten weder der Regierung,
noch dem Könige persönlichen Schutz, da in den politischen Processen die
scandalösesten Freisprechungen an der Tagesordnung waren. Freisprechungen,
welche gerade den gebildeten Classen ein äußerst ungünstiges Zeugniß auf¬
stellten; strenge Urtheile erfolgten eigentlich nur, wenn gerade nach Unter¬
drückung einer Emeute die öffentliche Meinung augenblicklich gegen die un¬
verbesserlichen Anarchisten erbittert war und der Sieg der Regierung auch den
Muth der Richter und Geschwornen über das gewöhnliche Maß hinaufge¬
schraubt hatte, und ihnen gestattete, ihrem Rechtsgefühl, das zugleich mit
ihren conservativen Neigungen übereinstimmte, zu folgen. Denn Geschworene
und Richter gehörten fast durchweg der Widerstandspartei an; sie verlangten
von der Regierung Energie; aber die Zumuthung, die Verantwortung für
die Energie mit der Regierung zu theilen, schien ihnen empörend. Die Furcht
vor der Revolution benahm der Bourgeoisie den Muth, ihre Schuldigkeit zu
thun, steigerte aber ihre Anforderungen an den Muth der Negierung.

Und das um so mehr, je augenscheinlicher es war, daß in der repu¬
blikanischen Partei die socialistischen Tendenzen Boden gewonnen hatten. Es
war dies ganz natürlich zugegangen. Für eine Idealrepublik, wie sie der
gebildeten Jugend vorschwebte, vermochte sich die Arbeiterbevölkerung nicht zu
begeistern. Um sie zu gewinnen, kam es darauf an, die sociale Frage in
Fluß zu bringen, die socialistischen Theorien, deren wir im vorigen Artikel
Erwähnung gethan haben, in einige zum Theil stark communistisch gefärbte
praktische Sätze zusammen zu fassen, sie auf diese Weise den Massen verständ¬
lich zu machen und durch sie die Begehrlichkeit derselben zu entflammen.
Diese communistisch - socialistische Wendung entsprach den Wünschen der ge¬
mäßigten Republikaner von der Farbe Armand Carrels sehr wenig. Aber


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/178>, abgerufen am 24.07.2024.