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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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es blieb ihm eben die alte Erfahrung nicht erspart, daß man mit einer Ver¬
fassungsfrage nicht im Stande ist, eine dauernde Aufregung im Volke zu er¬
halten, daß man die unter gewöhnlichen Verhältnissen selbst in Frankreich
träge Masse nur durch Aufpflanzung des nationalen, kirchlichen oder socialen
Banners in eine nachhaltige Bewegung setzen und in Athem erhalten kann.
Und der socialistische Charakter tritt denn auch in allen Bewegungen der
dreißiger Jahre scharf und bestimmt hervor. War das Kampfesziel der reinen
Republikaner der Sturz des Königs und der Dynastie, so sahen die sociali¬
stisch Verbündeten jener ihren Feind in der Bourgeoisie: die gemäßigten
Republikaner, mochten sie sich auch immerhin Demokraten nennen, dachten
doch nicht entfernt daran, den Sitz der Macht in die Massen zu verlegen:
gerade dies aber war die Tendenz der Socialisten, die sich um politische Frei¬
heit wenig kümmerten, die sogar für die Dictatur eine ausgesprochene Vor¬
liebe hatten, wenn nur der Dictator sich als Vertreter des vierten Standes
betrachtete, und in der Knechtung des Bürgerthums seine höchste Aufgabe sah.

Eine außerordentliche Wirkung übte bei dieser Stimmung der Geister ein
im Beginn der vierziger Jahre erschienenes Werk aus, welches es unternahm,
das abgelaufene Jahrzehnt der Julimonarchie vom social-demokratischen Stand¬
punkte aus geschichtlich darzustellen, in der unverkennbaren Absicht, einer
neuen Revolution die Wege zu bahnen, die die Elemente der Gesellschaft,
die 1793 über Frankreich verfügt hatten, und denen 1830 durch die Orleani-
sten ihre Siegesbeute entrissen war, an's Ruder bringen sollte. In Louis
Blanc's "Geschichte der 10 Jahre" läuft parallel mit den heftigsten Angriffen
gegen Louis Philipp eine erbitterte Polemik gegen die Socialpolitik des Bür¬
gerthums, unter der der Verfasser ungefähr den Zustand versteht, den Four-
rier als "Civilisation" bekämpft. Der Individualismus ist ihm die Quelle
alles Uebels in der Gesellschaft und das Gegenmittel gegen dies Uebel sieht
er in der Organisation der Arbeit. Auf Originalität können Louis Blanc's
Theorien keinen Anspruch machen. Was aber seinem Werke eine eigenthüm¬
liche Bedeutung verleiht, das ist die Kühnheit und Consequenz, mit welcher
die socialistischen Theorien des Verfassers als Maßstab für das geschichtliche
Urtheil angewendet werden. In der mit ungewöhnlichem Scharfsinn und in
glänzender fesselnder Darstellung durchgeführten Kritik der bestehenden Zu¬
stände liegt die Bedeutung des Buches, aus ihr erklärt sich die außerordent¬
liche Wirkung desselben. Die französische Gesellschaft ist in seinen Augen
demoralisirt, zerrüttet, jedes Mittelpunktes, jeder leitenden Idee beraubt: der
individuelle Egoismus ist die Triebfeder alles Handelns, und die Folge davon
ist ein Zustand moralischer, geistiger, gewerblicher Anarchie. Daß die Orga¬
nisation, durch welche diese Uebel geheilt werden sollen, zur Vernichtung aller
Selbstständigkeit führt, und daß sie sich, wenn überhaupt, nur durch eine


es blieb ihm eben die alte Erfahrung nicht erspart, daß man mit einer Ver¬
fassungsfrage nicht im Stande ist, eine dauernde Aufregung im Volke zu er¬
halten, daß man die unter gewöhnlichen Verhältnissen selbst in Frankreich
träge Masse nur durch Aufpflanzung des nationalen, kirchlichen oder socialen
Banners in eine nachhaltige Bewegung setzen und in Athem erhalten kann.
Und der socialistische Charakter tritt denn auch in allen Bewegungen der
dreißiger Jahre scharf und bestimmt hervor. War das Kampfesziel der reinen
Republikaner der Sturz des Königs und der Dynastie, so sahen die sociali¬
stisch Verbündeten jener ihren Feind in der Bourgeoisie: die gemäßigten
Republikaner, mochten sie sich auch immerhin Demokraten nennen, dachten
doch nicht entfernt daran, den Sitz der Macht in die Massen zu verlegen:
gerade dies aber war die Tendenz der Socialisten, die sich um politische Frei¬
heit wenig kümmerten, die sogar für die Dictatur eine ausgesprochene Vor¬
liebe hatten, wenn nur der Dictator sich als Vertreter des vierten Standes
betrachtete, und in der Knechtung des Bürgerthums seine höchste Aufgabe sah.

Eine außerordentliche Wirkung übte bei dieser Stimmung der Geister ein
im Beginn der vierziger Jahre erschienenes Werk aus, welches es unternahm,
das abgelaufene Jahrzehnt der Julimonarchie vom social-demokratischen Stand¬
punkte aus geschichtlich darzustellen, in der unverkennbaren Absicht, einer
neuen Revolution die Wege zu bahnen, die die Elemente der Gesellschaft,
die 1793 über Frankreich verfügt hatten, und denen 1830 durch die Orleani-
sten ihre Siegesbeute entrissen war, an's Ruder bringen sollte. In Louis
Blanc's „Geschichte der 10 Jahre" läuft parallel mit den heftigsten Angriffen
gegen Louis Philipp eine erbitterte Polemik gegen die Socialpolitik des Bür¬
gerthums, unter der der Verfasser ungefähr den Zustand versteht, den Four-
rier als „Civilisation" bekämpft. Der Individualismus ist ihm die Quelle
alles Uebels in der Gesellschaft und das Gegenmittel gegen dies Uebel sieht
er in der Organisation der Arbeit. Auf Originalität können Louis Blanc's
Theorien keinen Anspruch machen. Was aber seinem Werke eine eigenthüm¬
liche Bedeutung verleiht, das ist die Kühnheit und Consequenz, mit welcher
die socialistischen Theorien des Verfassers als Maßstab für das geschichtliche
Urtheil angewendet werden. In der mit ungewöhnlichem Scharfsinn und in
glänzender fesselnder Darstellung durchgeführten Kritik der bestehenden Zu¬
stände liegt die Bedeutung des Buches, aus ihr erklärt sich die außerordent¬
liche Wirkung desselben. Die französische Gesellschaft ist in seinen Augen
demoralisirt, zerrüttet, jedes Mittelpunktes, jeder leitenden Idee beraubt: der
individuelle Egoismus ist die Triebfeder alles Handelns, und die Folge davon
ist ein Zustand moralischer, geistiger, gewerblicher Anarchie. Daß die Orga¬
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/179>, abgerufen am 24.07.2024.