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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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die Grundsätze, die Guizot stets vertreten hatte; es stützte sich auf das rechte
Centrum, die alte Partei des Widerstandes, ohne jedoch die Kraft zu besitzen,
die Parteidisciplin aufrecht zu erhalten. Das Ministerium gerieth in's Schwan¬
ken, der Zusammenhang zwischen ihm und der Kammer lockerte sich, es ver¬
lor mehr und mehr den Charakter eines parlamentarischen Ministeriums im
strengen Sinne des Wortes und vermochte auch durch wiederholte Kammer¬
auflösungen nicht, seine Stellung zu einer vollkommen sicheren zu machen.
Daß es, wie jedes andere Ministerium seit 1832, von den Republikanern, der
dynastischen Linken und den Legitimisten auf's heftigste bekämpft wurde, ver¬
stand sich von selbst. Diese Angriffe würden jedoch seine Stellung nicht er¬
schüttert haben, wenn es auf die Centren hätte rechnen können. Indessen
das linke Centrum unter Thiers hatte sich der Linken angenähert. Von con-
servativer Seite bemühte sich besonders Duvergier de Hauranne, dessen hypcr-
constitutionelle Orthodoxie an Ludwig Philipp's persönlichem Einfluß auf
Mole großen Anstoß nahm, eine Verbindung aller mißvergnügten Elemente
zu Stande zu bringen. Seine Bemühungen wurden vom besten Erfolge
gekrönt. Ihren Abschluß und ihren festen Halt erhielt die Coalition aber
erst durch den Zutritt Guizot's und seiner näheren Freunde. Guizot suchte
den von seinem Standpunkte aus höchst auffälligen Schritt damit zu recht¬
fertigen, daß er in seinem Anschluß das beste Mittel gesehen habe, die Partei
des Widerstandes auf breiten Grundlagen wieder herzustellen. Die Zweck¬
mäßigkeit des in Anwendung gebrachten Mittels zu beweisen, gelingt ihm
aber nicht. Auch schimmert durch den Rechtfertigungsversuch deutlich genug
das Bewußtsein hindurch, daß er sich vom Standpunkte der Politik des Wi¬
derstandes aus eines schweren Fehlers schuldig gemacht habe, wie denn auch
vielen Mitgliedern seiner Partei selbst sein Verhalten in hohem Grade an¬
stößig erschien. Nach Mole"s Rücktritt (4. März 1839) trat denn auch in
der That eine heillose Verwirrung ein. Die Linke weigerte sich, mit Guizot in
ein Cabinet zu treten, obgleich derselbe durch die Energie seiner Angriffe auf
Mole wesentlich zum Erfolge der Coalition beigetragen hatte. Auch eine
Verständigung zwischen Thiers und Guizot ließ sich nicht erzielen, da Thiers
nicht daran dachte, die persönliche Bedeutung, die er durch die Annäherung
an die Linke sich verschafft hatte, einer erneuten Verbindung mit den Doktri¬
närs aufzuopfern; andrerseits aber hatte weder Guizot ohne Thiers, noch
Thiers ohne Guizot Aussicht, die Majorität der in voller Anarchie befind¬
lichen Kammer zu beherrschen. Man entschloß sich endlich zu einem proviso¬
rischen Ministerium aus unbedeutenden Mitgliedern aller dynastischen Par¬
teien, in der ausgesprochenen Absicht, der Kammer Gelegenheit zur Bildung
einer geschlossenen Majorität zu geben, der dann die definitiven Minister zu
entnehmen wären. Auch dies Auskunftsmittel blieb ohne Wirkung. Der


die Grundsätze, die Guizot stets vertreten hatte; es stützte sich auf das rechte
Centrum, die alte Partei des Widerstandes, ohne jedoch die Kraft zu besitzen,
die Parteidisciplin aufrecht zu erhalten. Das Ministerium gerieth in's Schwan¬
ken, der Zusammenhang zwischen ihm und der Kammer lockerte sich, es ver¬
lor mehr und mehr den Charakter eines parlamentarischen Ministeriums im
strengen Sinne des Wortes und vermochte auch durch wiederholte Kammer¬
auflösungen nicht, seine Stellung zu einer vollkommen sicheren zu machen.
Daß es, wie jedes andere Ministerium seit 1832, von den Republikanern, der
dynastischen Linken und den Legitimisten auf's heftigste bekämpft wurde, ver¬
stand sich von selbst. Diese Angriffe würden jedoch seine Stellung nicht er¬
schüttert haben, wenn es auf die Centren hätte rechnen können. Indessen
das linke Centrum unter Thiers hatte sich der Linken angenähert. Von con-
servativer Seite bemühte sich besonders Duvergier de Hauranne, dessen hypcr-
constitutionelle Orthodoxie an Ludwig Philipp's persönlichem Einfluß auf
Mole großen Anstoß nahm, eine Verbindung aller mißvergnügten Elemente
zu Stande zu bringen. Seine Bemühungen wurden vom besten Erfolge
gekrönt. Ihren Abschluß und ihren festen Halt erhielt die Coalition aber
erst durch den Zutritt Guizot's und seiner näheren Freunde. Guizot suchte
den von seinem Standpunkte aus höchst auffälligen Schritt damit zu recht¬
fertigen, daß er in seinem Anschluß das beste Mittel gesehen habe, die Partei
des Widerstandes auf breiten Grundlagen wieder herzustellen. Die Zweck¬
mäßigkeit des in Anwendung gebrachten Mittels zu beweisen, gelingt ihm
aber nicht. Auch schimmert durch den Rechtfertigungsversuch deutlich genug
das Bewußtsein hindurch, daß er sich vom Standpunkte der Politik des Wi¬
derstandes aus eines schweren Fehlers schuldig gemacht habe, wie denn auch
vielen Mitgliedern seiner Partei selbst sein Verhalten in hohem Grade an¬
stößig erschien. Nach Mole"s Rücktritt (4. März 1839) trat denn auch in
der That eine heillose Verwirrung ein. Die Linke weigerte sich, mit Guizot in
ein Cabinet zu treten, obgleich derselbe durch die Energie seiner Angriffe auf
Mole wesentlich zum Erfolge der Coalition beigetragen hatte. Auch eine
Verständigung zwischen Thiers und Guizot ließ sich nicht erzielen, da Thiers
nicht daran dachte, die persönliche Bedeutung, die er durch die Annäherung
an die Linke sich verschafft hatte, einer erneuten Verbindung mit den Doktri¬
närs aufzuopfern; andrerseits aber hatte weder Guizot ohne Thiers, noch
Thiers ohne Guizot Aussicht, die Majorität der in voller Anarchie befind¬
lichen Kammer zu beherrschen. Man entschloß sich endlich zu einem proviso¬
rischen Ministerium aus unbedeutenden Mitgliedern aller dynastischen Par¬
teien, in der ausgesprochenen Absicht, der Kammer Gelegenheit zur Bildung
einer geschlossenen Majorität zu geben, der dann die definitiven Minister zu
entnehmen wären. Auch dies Auskunftsmittel blieb ohne Wirkung. Der


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[0175] die Grundsätze, die Guizot stets vertreten hatte; es stützte sich auf das rechte Centrum, die alte Partei des Widerstandes, ohne jedoch die Kraft zu besitzen, die Parteidisciplin aufrecht zu erhalten. Das Ministerium gerieth in's Schwan¬ ken, der Zusammenhang zwischen ihm und der Kammer lockerte sich, es ver¬ lor mehr und mehr den Charakter eines parlamentarischen Ministeriums im strengen Sinne des Wortes und vermochte auch durch wiederholte Kammer¬ auflösungen nicht, seine Stellung zu einer vollkommen sicheren zu machen. Daß es, wie jedes andere Ministerium seit 1832, von den Republikanern, der dynastischen Linken und den Legitimisten auf's heftigste bekämpft wurde, ver¬ stand sich von selbst. Diese Angriffe würden jedoch seine Stellung nicht er¬ schüttert haben, wenn es auf die Centren hätte rechnen können. Indessen das linke Centrum unter Thiers hatte sich der Linken angenähert. Von con- servativer Seite bemühte sich besonders Duvergier de Hauranne, dessen hypcr- constitutionelle Orthodoxie an Ludwig Philipp's persönlichem Einfluß auf Mole großen Anstoß nahm, eine Verbindung aller mißvergnügten Elemente zu Stande zu bringen. Seine Bemühungen wurden vom besten Erfolge gekrönt. Ihren Abschluß und ihren festen Halt erhielt die Coalition aber erst durch den Zutritt Guizot's und seiner näheren Freunde. Guizot suchte den von seinem Standpunkte aus höchst auffälligen Schritt damit zu recht¬ fertigen, daß er in seinem Anschluß das beste Mittel gesehen habe, die Partei des Widerstandes auf breiten Grundlagen wieder herzustellen. Die Zweck¬ mäßigkeit des in Anwendung gebrachten Mittels zu beweisen, gelingt ihm aber nicht. Auch schimmert durch den Rechtfertigungsversuch deutlich genug das Bewußtsein hindurch, daß er sich vom Standpunkte der Politik des Wi¬ derstandes aus eines schweren Fehlers schuldig gemacht habe, wie denn auch vielen Mitgliedern seiner Partei selbst sein Verhalten in hohem Grade an¬ stößig erschien. Nach Mole"s Rücktritt (4. März 1839) trat denn auch in der That eine heillose Verwirrung ein. Die Linke weigerte sich, mit Guizot in ein Cabinet zu treten, obgleich derselbe durch die Energie seiner Angriffe auf Mole wesentlich zum Erfolge der Coalition beigetragen hatte. Auch eine Verständigung zwischen Thiers und Guizot ließ sich nicht erzielen, da Thiers nicht daran dachte, die persönliche Bedeutung, die er durch die Annäherung an die Linke sich verschafft hatte, einer erneuten Verbindung mit den Doktri¬ närs aufzuopfern; andrerseits aber hatte weder Guizot ohne Thiers, noch Thiers ohne Guizot Aussicht, die Majorität der in voller Anarchie befind¬ lichen Kammer zu beherrschen. Man entschloß sich endlich zu einem proviso¬ rischen Ministerium aus unbedeutenden Mitgliedern aller dynastischen Par¬ teien, in der ausgesprochenen Absicht, der Kammer Gelegenheit zur Bildung einer geschlossenen Majorität zu geben, der dann die definitiven Minister zu entnehmen wären. Auch dies Auskunftsmittel blieb ohne Wirkung. Der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/175>, abgerufen am 24.07.2024.