Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

schonungslos verfolgt, doch den officiellen Kreisen des bourbonischen Frank¬
reichs an, und jeder Systemwechsel konnte ihn an die Spitze der Verwaltung
führen. Thiers hatte dagegen während der Restauration der lebhaften jour¬
nalistischen Opposition angehört. Nach der Julirevolution hatte er sich mit
leidenschaftlicher Energie der conservativen Partei angeschlossen; er hatte gegen
die Abschaffung der Pairswürde gestimmt; als Minister des Innern harte er
in Unterdrückung der Emeute die äußerste Strenge bewiesen und durch die re¬
pressiven Septembergesetze sich einen gefürchteten Namen gemacht; er war der
glühendste Bewunderer des Centralisationsprincips, in dem er die Grundlage
der französischen Macht und Größe sah. Indessen so sehr er in allen diesen
Beziehungen mit Guizot damals übereinstimmte, an rascher Energie des Han¬
delns diesen sogar noch überbot, waren doch die Naturen der beiden Männer
und ihre Antecedentien zu verschieden, als daß ein inniges Verhältniß zwi¬
schen ihnen sich hätte ausbilden können. Die etwas pedantische Steifheit der
Doctnnärs war Thiers geradezu antipathisch und von Guizot's hochmüthiger
Verachtung der öffentlichen Meinung war er weit entfernt. Er war vielmehr
stets darauf bedacht gewesen, im Cabinet eine gesonderte Stellung einzuneh¬
men und deutlich erkennen zu lassen, daß trotz des Gelegenheitsbündnisfes
mit Guizot ihn eine unübersteigliche Kluft von den Doctrinciren trennte.
Auch hatte er seine Verbindungen mit den alten Freunden von der dynasti¬
schen Linken niemals völlig abgebrochen; er bedürfte ihrer für den Fall einer
Trennung von Guizot, und sie umwarben ihn, weil er der einzige Staats¬
mann war, unter dessen Führung sie den Doctrinären die Herrschaft über die
Kammer zu entreißen hoffen konnten. Die hauptsächlich durch die Haltung
des tiers xg,rei herbeigeführte Niederlage des Ministeriums gab Thiers seine
Freiheit zurück, und er säumte nicht, dieselbe zur Gewinnung einer selbst¬
ständigen Stellung zu benutzen. War Guizot der eigentliche Repräsentant
des rechten Centrums, so gründete er sich jetzt im linken Centrum, das sich
übrigens vom rechten Centrum vielmehr durch sein etwas unruhigeres Tem¬
perament, als durch seine Grundsätze unterschied, eine Hausmacht, durch die
er jeden Augenblick mit der dynastischen Linken in Verbindung treten konnte.
Die bloße Thatsache der Trennung von Guizot verlieh ihm eine gewisse Po¬
pularität. Er galt für liberal, für national, bloß weil er mit Guizot ge¬
brochen hatte.

Die Trennung der beiden Männer war definitiv, nur in der gemein¬
samen Opposition gegen das Ministerium Mole', das bereits im Jahre 1836
das Ministerium Thiers abgelöst hatte, fanden sie sich noch einmal zusammen.
Diese Coalition der verschiedensten Parteien, die sich zum Sturze des Mini¬
steriums Mole gebildet hatte, bezeichnet einen weiten Fortschritt in der Zer¬
setzung des Parteiwesens. Das Ministerium Mole vertrat im Wesentlichen


schonungslos verfolgt, doch den officiellen Kreisen des bourbonischen Frank¬
reichs an, und jeder Systemwechsel konnte ihn an die Spitze der Verwaltung
führen. Thiers hatte dagegen während der Restauration der lebhaften jour¬
nalistischen Opposition angehört. Nach der Julirevolution hatte er sich mit
leidenschaftlicher Energie der conservativen Partei angeschlossen; er hatte gegen
die Abschaffung der Pairswürde gestimmt; als Minister des Innern harte er
in Unterdrückung der Emeute die äußerste Strenge bewiesen und durch die re¬
pressiven Septembergesetze sich einen gefürchteten Namen gemacht; er war der
glühendste Bewunderer des Centralisationsprincips, in dem er die Grundlage
der französischen Macht und Größe sah. Indessen so sehr er in allen diesen
Beziehungen mit Guizot damals übereinstimmte, an rascher Energie des Han¬
delns diesen sogar noch überbot, waren doch die Naturen der beiden Männer
und ihre Antecedentien zu verschieden, als daß ein inniges Verhältniß zwi¬
schen ihnen sich hätte ausbilden können. Die etwas pedantische Steifheit der
Doctnnärs war Thiers geradezu antipathisch und von Guizot's hochmüthiger
Verachtung der öffentlichen Meinung war er weit entfernt. Er war vielmehr
stets darauf bedacht gewesen, im Cabinet eine gesonderte Stellung einzuneh¬
men und deutlich erkennen zu lassen, daß trotz des Gelegenheitsbündnisfes
mit Guizot ihn eine unübersteigliche Kluft von den Doctrinciren trennte.
Auch hatte er seine Verbindungen mit den alten Freunden von der dynasti¬
schen Linken niemals völlig abgebrochen; er bedürfte ihrer für den Fall einer
Trennung von Guizot, und sie umwarben ihn, weil er der einzige Staats¬
mann war, unter dessen Führung sie den Doctrinären die Herrschaft über die
Kammer zu entreißen hoffen konnten. Die hauptsächlich durch die Haltung
des tiers xg,rei herbeigeführte Niederlage des Ministeriums gab Thiers seine
Freiheit zurück, und er säumte nicht, dieselbe zur Gewinnung einer selbst¬
ständigen Stellung zu benutzen. War Guizot der eigentliche Repräsentant
des rechten Centrums, so gründete er sich jetzt im linken Centrum, das sich
übrigens vom rechten Centrum vielmehr durch sein etwas unruhigeres Tem¬
perament, als durch seine Grundsätze unterschied, eine Hausmacht, durch die
er jeden Augenblick mit der dynastischen Linken in Verbindung treten konnte.
Die bloße Thatsache der Trennung von Guizot verlieh ihm eine gewisse Po¬
pularität. Er galt für liberal, für national, bloß weil er mit Guizot ge¬
brochen hatte.

Die Trennung der beiden Männer war definitiv, nur in der gemein¬
samen Opposition gegen das Ministerium Mole', das bereits im Jahre 1836
das Ministerium Thiers abgelöst hatte, fanden sie sich noch einmal zusammen.
Diese Coalition der verschiedensten Parteien, die sich zum Sturze des Mini¬
steriums Mole gebildet hatte, bezeichnet einen weiten Fortschritt in der Zer¬
setzung des Parteiwesens. Das Ministerium Mole vertrat im Wesentlichen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0174" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/126450"/>
            <p xml:id="ID_503" prev="#ID_502"> schonungslos verfolgt, doch den officiellen Kreisen des bourbonischen Frank¬<lb/>
reichs an, und jeder Systemwechsel konnte ihn an die Spitze der Verwaltung<lb/>
führen. Thiers hatte dagegen während der Restauration der lebhaften jour¬<lb/>
nalistischen Opposition angehört. Nach der Julirevolution hatte er sich mit<lb/>
leidenschaftlicher Energie der conservativen Partei angeschlossen; er hatte gegen<lb/>
die Abschaffung der Pairswürde gestimmt; als Minister des Innern harte er<lb/>
in Unterdrückung der Emeute die äußerste Strenge bewiesen und durch die re¬<lb/>
pressiven Septembergesetze sich einen gefürchteten Namen gemacht; er war der<lb/>
glühendste Bewunderer des Centralisationsprincips, in dem er die Grundlage<lb/>
der französischen Macht und Größe sah. Indessen so sehr er in allen diesen<lb/>
Beziehungen mit Guizot damals übereinstimmte, an rascher Energie des Han¬<lb/>
delns diesen sogar noch überbot, waren doch die Naturen der beiden Männer<lb/>
und ihre Antecedentien zu verschieden, als daß ein inniges Verhältniß zwi¬<lb/>
schen ihnen sich hätte ausbilden können. Die etwas pedantische Steifheit der<lb/>
Doctnnärs war Thiers geradezu antipathisch und von Guizot's hochmüthiger<lb/>
Verachtung der öffentlichen Meinung war er weit entfernt. Er war vielmehr<lb/>
stets darauf bedacht gewesen, im Cabinet eine gesonderte Stellung einzuneh¬<lb/>
men und deutlich erkennen zu lassen, daß trotz des Gelegenheitsbündnisfes<lb/>
mit Guizot ihn eine unübersteigliche Kluft von den Doctrinciren trennte.<lb/>
Auch hatte er seine Verbindungen mit den alten Freunden von der dynasti¬<lb/>
schen Linken niemals völlig abgebrochen; er bedürfte ihrer für den Fall einer<lb/>
Trennung von Guizot, und sie umwarben ihn, weil er der einzige Staats¬<lb/>
mann war, unter dessen Führung sie den Doctrinären die Herrschaft über die<lb/>
Kammer zu entreißen hoffen konnten. Die hauptsächlich durch die Haltung<lb/>
des tiers xg,rei herbeigeführte Niederlage des Ministeriums gab Thiers seine<lb/>
Freiheit zurück, und er säumte nicht, dieselbe zur Gewinnung einer selbst¬<lb/>
ständigen Stellung zu benutzen. War Guizot der eigentliche Repräsentant<lb/>
des rechten Centrums, so gründete er sich jetzt im linken Centrum, das sich<lb/>
übrigens vom rechten Centrum vielmehr durch sein etwas unruhigeres Tem¬<lb/>
perament, als durch seine Grundsätze unterschied, eine Hausmacht, durch die<lb/>
er jeden Augenblick mit der dynastischen Linken in Verbindung treten konnte.<lb/>
Die bloße Thatsache der Trennung von Guizot verlieh ihm eine gewisse Po¬<lb/>
pularität. Er galt für liberal, für national, bloß weil er mit Guizot ge¬<lb/>
brochen hatte.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_504" next="#ID_505"> Die Trennung der beiden Männer war definitiv, nur in der gemein¬<lb/>
samen Opposition gegen das Ministerium Mole', das bereits im Jahre 1836<lb/>
das Ministerium Thiers abgelöst hatte, fanden sie sich noch einmal zusammen.<lb/>
Diese Coalition der verschiedensten Parteien, die sich zum Sturze des Mini¬<lb/>
steriums Mole gebildet hatte, bezeichnet einen weiten Fortschritt in der Zer¬<lb/>
setzung des Parteiwesens. Das Ministerium Mole vertrat im Wesentlichen</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0174] schonungslos verfolgt, doch den officiellen Kreisen des bourbonischen Frank¬ reichs an, und jeder Systemwechsel konnte ihn an die Spitze der Verwaltung führen. Thiers hatte dagegen während der Restauration der lebhaften jour¬ nalistischen Opposition angehört. Nach der Julirevolution hatte er sich mit leidenschaftlicher Energie der conservativen Partei angeschlossen; er hatte gegen die Abschaffung der Pairswürde gestimmt; als Minister des Innern harte er in Unterdrückung der Emeute die äußerste Strenge bewiesen und durch die re¬ pressiven Septembergesetze sich einen gefürchteten Namen gemacht; er war der glühendste Bewunderer des Centralisationsprincips, in dem er die Grundlage der französischen Macht und Größe sah. Indessen so sehr er in allen diesen Beziehungen mit Guizot damals übereinstimmte, an rascher Energie des Han¬ delns diesen sogar noch überbot, waren doch die Naturen der beiden Männer und ihre Antecedentien zu verschieden, als daß ein inniges Verhältniß zwi¬ schen ihnen sich hätte ausbilden können. Die etwas pedantische Steifheit der Doctnnärs war Thiers geradezu antipathisch und von Guizot's hochmüthiger Verachtung der öffentlichen Meinung war er weit entfernt. Er war vielmehr stets darauf bedacht gewesen, im Cabinet eine gesonderte Stellung einzuneh¬ men und deutlich erkennen zu lassen, daß trotz des Gelegenheitsbündnisfes mit Guizot ihn eine unübersteigliche Kluft von den Doctrinciren trennte. Auch hatte er seine Verbindungen mit den alten Freunden von der dynasti¬ schen Linken niemals völlig abgebrochen; er bedürfte ihrer für den Fall einer Trennung von Guizot, und sie umwarben ihn, weil er der einzige Staats¬ mann war, unter dessen Führung sie den Doctrinären die Herrschaft über die Kammer zu entreißen hoffen konnten. Die hauptsächlich durch die Haltung des tiers xg,rei herbeigeführte Niederlage des Ministeriums gab Thiers seine Freiheit zurück, und er säumte nicht, dieselbe zur Gewinnung einer selbst¬ ständigen Stellung zu benutzen. War Guizot der eigentliche Repräsentant des rechten Centrums, so gründete er sich jetzt im linken Centrum, das sich übrigens vom rechten Centrum vielmehr durch sein etwas unruhigeres Tem¬ perament, als durch seine Grundsätze unterschied, eine Hausmacht, durch die er jeden Augenblick mit der dynastischen Linken in Verbindung treten konnte. Die bloße Thatsache der Trennung von Guizot verlieh ihm eine gewisse Po¬ pularität. Er galt für liberal, für national, bloß weil er mit Guizot ge¬ brochen hatte. Die Trennung der beiden Männer war definitiv, nur in der gemein¬ samen Opposition gegen das Ministerium Mole', das bereits im Jahre 1836 das Ministerium Thiers abgelöst hatte, fanden sie sich noch einmal zusammen. Diese Coalition der verschiedensten Parteien, die sich zum Sturze des Mini¬ steriums Mole gebildet hatte, bezeichnet einen weiten Fortschritt in der Zer¬ setzung des Parteiwesens. Das Ministerium Mole vertrat im Wesentlichen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/174
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/174>, abgerufen am 24.07.2024.