Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

zurückruft, mit der ganz Europa dem Verlauf des aufregenden Parlamentär!"
sehen Dramas in Frankreich folgte, der ist überrascht von der dürftigen Aus¬
beute, welche die angestrengte Arbeit einer achtzehnjährigen lebhaft erregten
Periode geliefert hat.

Aber es war vielmehr eine Periode des Kampfes als der Arbeit, eines
fruchtlosen Kampfes, in dem alle Kräfte sich abnutzten, weil von keiner Seite
ein würdiges Kampfesziel aufgestellt wurde, weil die Rivalitäten der herrsch¬
süchtigen Staatsmänner und Parteien das einzig Bewegende, Treibende in
diesem constitutionellen Wirrwarr waren. Dies ging so weit, daß von den
Konservativen sich noch eine Fraction, der tisrs parti abzweigte, die (was im
Grunde auch von dem linken Centrum gilt) mit jener sachlich auf völlig glei¬
chem Boden stand, und nicht entfernt daran dachte, liberaleren Grundsätzen,
als jene, zu folgen. Aber durch die Abzweigung des tisrs parti wurde die
Zahl der Ministercandidaten vermehrt und ließ sich ohne jedes sachliche Be¬
dürfniß leicht eine harmlose Ministerkrisis ins Werk setzen. Hatten die Her¬
ren Dupin, Passy, Sauzet nicht dieselben Ansprüche darauf, gelegentlich Lud¬
wig Philipp zu berathen, wie die Broglie und Guizot? Im alten Rom
war es Praxis geworden, möglichst viele Mitglieder der herrschenden Familien
auf die curulischen Sessel zu befördern. Diesem oligarchischen Ideal glaubte
die französische Bourgeois-Oligarchie um so näher zu kommen, in je mehr
Fractionen sie sich spaltete. Und Ludwig Philipp, dem die starren Doctri-
näre oft unbequem wurden, war ganz zufrieden damit, wenn die persönlichen
Rivalitäten seiner Anhänger ihm einen gelegentlichen Wechsel seiner Räthe
gestatteten, ohne daß er gleichzeitig zu einem Systemwechsel genöthigt worden
wäre.

Der zersetzende Einfluß, den die Abzweigung des tigrs paiti auf die
große Partei des Widerstandes ausübte, zeigte sich bald: das Ministerium
des 11. Octobers 1832, welches unter Guizots und Thiers Führung alle
Schattirungen dieser Partei vertrat, erlitt, nachdem es im Laufe der Jahre
bereits mannigfache Umgestaltungen erfahren hatte, in einer finanziellen
Frage von überwiegend technischer Bedeutung eine empfindliche Niederlage, bloß
weil ein Theil der conservativen Partei das Bedürfniß empfand, dem Mini¬
sterium einmal eine Lection zu ertheilen. Nach dem Rücktritt des Ministe¬
riums trennte sich Thiers von Guizot und trat an die Spitze eines Cabinets,
das sich vorzugsweise auf das linke Centrum stützte.

Diese Trennung der beiden Staatsmänner war eines der folgenreichsten
Ereignisse der parlamentarischen Geschichte des Julikönigthums. Thiers und
Guizot waren von verschiedenen Ausgangspunkten ausgegangen. Guizot
hatte mit den liberalen royalistischen Staatsmännern der Restaurationszeit in
sehr nahen Beziehungen gestanden; er gehörte, wenn auch von den Ultra's


zurückruft, mit der ganz Europa dem Verlauf des aufregenden Parlamentär!«
sehen Dramas in Frankreich folgte, der ist überrascht von der dürftigen Aus¬
beute, welche die angestrengte Arbeit einer achtzehnjährigen lebhaft erregten
Periode geliefert hat.

Aber es war vielmehr eine Periode des Kampfes als der Arbeit, eines
fruchtlosen Kampfes, in dem alle Kräfte sich abnutzten, weil von keiner Seite
ein würdiges Kampfesziel aufgestellt wurde, weil die Rivalitäten der herrsch¬
süchtigen Staatsmänner und Parteien das einzig Bewegende, Treibende in
diesem constitutionellen Wirrwarr waren. Dies ging so weit, daß von den
Konservativen sich noch eine Fraction, der tisrs parti abzweigte, die (was im
Grunde auch von dem linken Centrum gilt) mit jener sachlich auf völlig glei¬
chem Boden stand, und nicht entfernt daran dachte, liberaleren Grundsätzen,
als jene, zu folgen. Aber durch die Abzweigung des tisrs parti wurde die
Zahl der Ministercandidaten vermehrt und ließ sich ohne jedes sachliche Be¬
dürfniß leicht eine harmlose Ministerkrisis ins Werk setzen. Hatten die Her¬
ren Dupin, Passy, Sauzet nicht dieselben Ansprüche darauf, gelegentlich Lud¬
wig Philipp zu berathen, wie die Broglie und Guizot? Im alten Rom
war es Praxis geworden, möglichst viele Mitglieder der herrschenden Familien
auf die curulischen Sessel zu befördern. Diesem oligarchischen Ideal glaubte
die französische Bourgeois-Oligarchie um so näher zu kommen, in je mehr
Fractionen sie sich spaltete. Und Ludwig Philipp, dem die starren Doctri-
näre oft unbequem wurden, war ganz zufrieden damit, wenn die persönlichen
Rivalitäten seiner Anhänger ihm einen gelegentlichen Wechsel seiner Räthe
gestatteten, ohne daß er gleichzeitig zu einem Systemwechsel genöthigt worden
wäre.

Der zersetzende Einfluß, den die Abzweigung des tigrs paiti auf die
große Partei des Widerstandes ausübte, zeigte sich bald: das Ministerium
des 11. Octobers 1832, welches unter Guizots und Thiers Führung alle
Schattirungen dieser Partei vertrat, erlitt, nachdem es im Laufe der Jahre
bereits mannigfache Umgestaltungen erfahren hatte, in einer finanziellen
Frage von überwiegend technischer Bedeutung eine empfindliche Niederlage, bloß
weil ein Theil der conservativen Partei das Bedürfniß empfand, dem Mini¬
sterium einmal eine Lection zu ertheilen. Nach dem Rücktritt des Ministe¬
riums trennte sich Thiers von Guizot und trat an die Spitze eines Cabinets,
das sich vorzugsweise auf das linke Centrum stützte.

Diese Trennung der beiden Staatsmänner war eines der folgenreichsten
Ereignisse der parlamentarischen Geschichte des Julikönigthums. Thiers und
Guizot waren von verschiedenen Ausgangspunkten ausgegangen. Guizot
hatte mit den liberalen royalistischen Staatsmännern der Restaurationszeit in
sehr nahen Beziehungen gestanden; er gehörte, wenn auch von den Ultra's


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0173" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/126449"/>
            <p xml:id="ID_499" prev="#ID_498"> zurückruft, mit der ganz Europa dem Verlauf des aufregenden Parlamentär!«<lb/>
sehen Dramas in Frankreich folgte, der ist überrascht von der dürftigen Aus¬<lb/>
beute, welche die angestrengte Arbeit einer achtzehnjährigen lebhaft erregten<lb/>
Periode geliefert hat.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_500"> Aber es war vielmehr eine Periode des Kampfes als der Arbeit, eines<lb/>
fruchtlosen Kampfes, in dem alle Kräfte sich abnutzten, weil von keiner Seite<lb/>
ein würdiges Kampfesziel aufgestellt wurde, weil die Rivalitäten der herrsch¬<lb/>
süchtigen Staatsmänner und Parteien das einzig Bewegende, Treibende in<lb/>
diesem constitutionellen Wirrwarr waren. Dies ging so weit, daß von den<lb/>
Konservativen sich noch eine Fraction, der tisrs parti abzweigte, die (was im<lb/>
Grunde auch von dem linken Centrum gilt) mit jener sachlich auf völlig glei¬<lb/>
chem Boden stand, und nicht entfernt daran dachte, liberaleren Grundsätzen,<lb/>
als jene, zu folgen. Aber durch die Abzweigung des tisrs parti wurde die<lb/>
Zahl der Ministercandidaten vermehrt und ließ sich ohne jedes sachliche Be¬<lb/>
dürfniß leicht eine harmlose Ministerkrisis ins Werk setzen. Hatten die Her¬<lb/>
ren Dupin, Passy, Sauzet nicht dieselben Ansprüche darauf, gelegentlich Lud¬<lb/>
wig Philipp zu berathen, wie die Broglie und Guizot? Im alten Rom<lb/>
war es Praxis geworden, möglichst viele Mitglieder der herrschenden Familien<lb/>
auf die curulischen Sessel zu befördern. Diesem oligarchischen Ideal glaubte<lb/>
die französische Bourgeois-Oligarchie um so näher zu kommen, in je mehr<lb/>
Fractionen sie sich spaltete. Und Ludwig Philipp, dem die starren Doctri-<lb/>
näre oft unbequem wurden, war ganz zufrieden damit, wenn die persönlichen<lb/>
Rivalitäten seiner Anhänger ihm einen gelegentlichen Wechsel seiner Räthe<lb/>
gestatteten, ohne daß er gleichzeitig zu einem Systemwechsel genöthigt worden<lb/>
wäre.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_501"> Der zersetzende Einfluß, den die Abzweigung des tigrs paiti auf die<lb/>
große Partei des Widerstandes ausübte, zeigte sich bald: das Ministerium<lb/>
des 11. Octobers 1832, welches unter Guizots und Thiers Führung alle<lb/>
Schattirungen dieser Partei vertrat, erlitt, nachdem es im Laufe der Jahre<lb/>
bereits mannigfache Umgestaltungen erfahren hatte, in einer finanziellen<lb/>
Frage von überwiegend technischer Bedeutung eine empfindliche Niederlage, bloß<lb/>
weil ein Theil der conservativen Partei das Bedürfniß empfand, dem Mini¬<lb/>
sterium einmal eine Lection zu ertheilen. Nach dem Rücktritt des Ministe¬<lb/>
riums trennte sich Thiers von Guizot und trat an die Spitze eines Cabinets,<lb/>
das sich vorzugsweise auf das linke Centrum stützte.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_502" next="#ID_503"> Diese Trennung der beiden Staatsmänner war eines der folgenreichsten<lb/>
Ereignisse der parlamentarischen Geschichte des Julikönigthums. Thiers und<lb/>
Guizot waren von verschiedenen Ausgangspunkten ausgegangen. Guizot<lb/>
hatte mit den liberalen royalistischen Staatsmännern der Restaurationszeit in<lb/>
sehr nahen Beziehungen gestanden; er gehörte, wenn auch von den Ultra's</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0173] zurückruft, mit der ganz Europa dem Verlauf des aufregenden Parlamentär!« sehen Dramas in Frankreich folgte, der ist überrascht von der dürftigen Aus¬ beute, welche die angestrengte Arbeit einer achtzehnjährigen lebhaft erregten Periode geliefert hat. Aber es war vielmehr eine Periode des Kampfes als der Arbeit, eines fruchtlosen Kampfes, in dem alle Kräfte sich abnutzten, weil von keiner Seite ein würdiges Kampfesziel aufgestellt wurde, weil die Rivalitäten der herrsch¬ süchtigen Staatsmänner und Parteien das einzig Bewegende, Treibende in diesem constitutionellen Wirrwarr waren. Dies ging so weit, daß von den Konservativen sich noch eine Fraction, der tisrs parti abzweigte, die (was im Grunde auch von dem linken Centrum gilt) mit jener sachlich auf völlig glei¬ chem Boden stand, und nicht entfernt daran dachte, liberaleren Grundsätzen, als jene, zu folgen. Aber durch die Abzweigung des tisrs parti wurde die Zahl der Ministercandidaten vermehrt und ließ sich ohne jedes sachliche Be¬ dürfniß leicht eine harmlose Ministerkrisis ins Werk setzen. Hatten die Her¬ ren Dupin, Passy, Sauzet nicht dieselben Ansprüche darauf, gelegentlich Lud¬ wig Philipp zu berathen, wie die Broglie und Guizot? Im alten Rom war es Praxis geworden, möglichst viele Mitglieder der herrschenden Familien auf die curulischen Sessel zu befördern. Diesem oligarchischen Ideal glaubte die französische Bourgeois-Oligarchie um so näher zu kommen, in je mehr Fractionen sie sich spaltete. Und Ludwig Philipp, dem die starren Doctri- näre oft unbequem wurden, war ganz zufrieden damit, wenn die persönlichen Rivalitäten seiner Anhänger ihm einen gelegentlichen Wechsel seiner Räthe gestatteten, ohne daß er gleichzeitig zu einem Systemwechsel genöthigt worden wäre. Der zersetzende Einfluß, den die Abzweigung des tigrs paiti auf die große Partei des Widerstandes ausübte, zeigte sich bald: das Ministerium des 11. Octobers 1832, welches unter Guizots und Thiers Führung alle Schattirungen dieser Partei vertrat, erlitt, nachdem es im Laufe der Jahre bereits mannigfache Umgestaltungen erfahren hatte, in einer finanziellen Frage von überwiegend technischer Bedeutung eine empfindliche Niederlage, bloß weil ein Theil der conservativen Partei das Bedürfniß empfand, dem Mini¬ sterium einmal eine Lection zu ertheilen. Nach dem Rücktritt des Ministe¬ riums trennte sich Thiers von Guizot und trat an die Spitze eines Cabinets, das sich vorzugsweise auf das linke Centrum stützte. Diese Trennung der beiden Staatsmänner war eines der folgenreichsten Ereignisse der parlamentarischen Geschichte des Julikönigthums. Thiers und Guizot waren von verschiedenen Ausgangspunkten ausgegangen. Guizot hatte mit den liberalen royalistischen Staatsmännern der Restaurationszeit in sehr nahen Beziehungen gestanden; er gehörte, wenn auch von den Ultra's

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/173
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/173>, abgerufen am 24.07.2024.