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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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auch unfähig, die Freiheit gegen die Willkür der allmächtigen Regierungs¬
gewalt zu vertheidigen.

Guizot giebt in seinen Memoiren die Nevisionsfrage mit Recht als den
Ausgangspunkt der neuen Parteibildung an, die von entschiedenem Einfluß
auf die Geschicke des Julikönigthums werden sollte. Daß unter den An¬
hängern der neuen Monarchie neben den Conservativen auch ein fortschritt¬
liches Element sich fand, war in der Natur der Dinge begründet und an sich
nichts weniger als bedenklich. Aber verhängnißvoll und maßgebend für alle
Zukunft war es, daß dieser Gegensatz bereits bei der Revision der Verfassung
zu einer offnen Spaltung innerhalb der orleanistischen Partei führte. Wo
es sich um eine Lebensfrage für das in seinen Anfängen begriffene neue Kö¬
nigthum handelte, durfte die Fortschrittspartei nicht eine Haltung einnehmen,
durch die sie sich wider Willen zum Verbündeten der Gegner Ludwig Philipps
machte. Sie mußte vor dem Lande die Verantwortung für die zur Consoli-
dirung der neuen Verhältnisse nothwendige Politik mit übernehmen. Dieser
Verantwortung entzog sie sich; um ihre Popularität zu wahren, trug sie kein
Bedenken, den König in ungünstigem Licht erscheinen zu lassen. Besonders
unheilvoll aber war, daß im Gegensatze zur Bewegungspartei die conser-
vative Fraction des Orleanismus in ihrer Jsolirung sich mit um so größerer
Zähigkeit an das unfruchtbare Princip des Widerstandes anklammerte, daß
sie nicht nur die Revolution bekämpfte, sondern auch gegen berechtigte For¬
derungen der öffentlichen Meinung sich grundsätzlich spröde verhielt, weil sie
in jedem Zugeständniß eine Ermuthigung der Revolution erblickte. Die con-
servative Partei gebot fast immer über große parlamentarische Mehrheiten,
auf die gestützt sie nach allen Richtungen hin eine schöpferische Thätigkeit
hätte entfalten können. Sie wagte es nicht, wagte es selbst zu einer Zeit
nicht, wo die materielle Ordnung so weit gesichert war, daß die Regierung
unter keinen Umständen dem Verdacht ausgesetzt war, unter dem Druck der
Furcht zu handeln; sie wagten es deshalb nicht, weil sie fürchteten, von der
Bewegungspartei auf Abwege fortgerissen zu werden. Bei diesem Mangel
an Vertrauen auf die eigene Kraft erlahmte jede wirklich pr-ductive Thätig¬
keit des Staates. Allerdings stand die Gesetzgebungsmlschine nicht still.
Aber wenn man die Qualität ihrer Leistungen in dem von Guizot mitge¬
theilten Berzeichniß der neuen Gesetze überblickt, so staurc man doch über die
unglaubliche Unfruchtbarkeit des constitutionellen Lebens während der Juli¬
monarchie. Neben einer Anzahl repressiver Gelegenleitsgesetze (deren Noth¬
wendigkeit z. Th. einleuchtend ist) fast nichts von Bedeutung, keine Spur
von schöpferischer Kraft, wenn wir die allerdings "chtungswerthen Leistungen
Guizots auf dem Gebiete des Unterrichtswesens .usnehmen. Wer sich zurück¬
versetzt in jene Zeiten, wer sich die gespannt Theilnahme ins Gedächtniß


auch unfähig, die Freiheit gegen die Willkür der allmächtigen Regierungs¬
gewalt zu vertheidigen.

Guizot giebt in seinen Memoiren die Nevisionsfrage mit Recht als den
Ausgangspunkt der neuen Parteibildung an, die von entschiedenem Einfluß
auf die Geschicke des Julikönigthums werden sollte. Daß unter den An¬
hängern der neuen Monarchie neben den Conservativen auch ein fortschritt¬
liches Element sich fand, war in der Natur der Dinge begründet und an sich
nichts weniger als bedenklich. Aber verhängnißvoll und maßgebend für alle
Zukunft war es, daß dieser Gegensatz bereits bei der Revision der Verfassung
zu einer offnen Spaltung innerhalb der orleanistischen Partei führte. Wo
es sich um eine Lebensfrage für das in seinen Anfängen begriffene neue Kö¬
nigthum handelte, durfte die Fortschrittspartei nicht eine Haltung einnehmen,
durch die sie sich wider Willen zum Verbündeten der Gegner Ludwig Philipps
machte. Sie mußte vor dem Lande die Verantwortung für die zur Consoli-
dirung der neuen Verhältnisse nothwendige Politik mit übernehmen. Dieser
Verantwortung entzog sie sich; um ihre Popularität zu wahren, trug sie kein
Bedenken, den König in ungünstigem Licht erscheinen zu lassen. Besonders
unheilvoll aber war, daß im Gegensatze zur Bewegungspartei die conser-
vative Fraction des Orleanismus in ihrer Jsolirung sich mit um so größerer
Zähigkeit an das unfruchtbare Princip des Widerstandes anklammerte, daß
sie nicht nur die Revolution bekämpfte, sondern auch gegen berechtigte For¬
derungen der öffentlichen Meinung sich grundsätzlich spröde verhielt, weil sie
in jedem Zugeständniß eine Ermuthigung der Revolution erblickte. Die con-
servative Partei gebot fast immer über große parlamentarische Mehrheiten,
auf die gestützt sie nach allen Richtungen hin eine schöpferische Thätigkeit
hätte entfalten können. Sie wagte es nicht, wagte es selbst zu einer Zeit
nicht, wo die materielle Ordnung so weit gesichert war, daß die Regierung
unter keinen Umständen dem Verdacht ausgesetzt war, unter dem Druck der
Furcht zu handeln; sie wagten es deshalb nicht, weil sie fürchteten, von der
Bewegungspartei auf Abwege fortgerissen zu werden. Bei diesem Mangel
an Vertrauen auf die eigene Kraft erlahmte jede wirklich pr-ductive Thätig¬
keit des Staates. Allerdings stand die Gesetzgebungsmlschine nicht still.
Aber wenn man die Qualität ihrer Leistungen in dem von Guizot mitge¬
theilten Berzeichniß der neuen Gesetze überblickt, so staurc man doch über die
unglaubliche Unfruchtbarkeit des constitutionellen Lebens während der Juli¬
monarchie. Neben einer Anzahl repressiver Gelegenleitsgesetze (deren Noth¬
wendigkeit z. Th. einleuchtend ist) fast nichts von Bedeutung, keine Spur
von schöpferischer Kraft, wenn wir die allerdings »chtungswerthen Leistungen
Guizots auf dem Gebiete des Unterrichtswesens .usnehmen. Wer sich zurück¬
versetzt in jene Zeiten, wer sich die gespannt Theilnahme ins Gedächtniß


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/172>, abgerufen am 24.07.2024.