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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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Schlagwörter überhoben sie sich der Mühe, ihre nebelhaften Wünsche in klar
umschriebene Forderungen zusammenzufassen.

Um so schärfer schieden sich die dynastische Linke und die Republikaner
von den Altliberalen, den Anhängern der bestehenden Verfassung, welche die¬
selbe mit Energie gegen die Angriffe der Ultras vertheidigt hatten und ent¬
schlossen waren, Alles aufzubieten, um sie ihrem wesentlichen Bestandtheil
nach aus dem Sturm der Revolution zu retten. Den Kern dieser Partei
bildeten die Doctrinären. Der Name war ihnen einst von den Royalisten
gegeben worden, um sie wegen ihres schroffen Festhaltens an der Charte
lächerlich zu machen; jetzt griffen die Radicalen ihn auf, um sie als Männer
der Theorie zu bezeichnen, die nicht wagten, die praktischen Konsequenzen
ihrer freisinnigen Grundsätze zu ziehen, und die Charte nur als Hemmschuh
des Fortschritts benutzen wollten. Ihr Festhalten an der Charte wurde
ihnen vom radicalen Standpunkte jetzt eben so zum Vorwurf gemacht, wie
einst von dem entgegengesetzten ultraroyalistischen Standpunkte aus.

Eine Revision der Charte war freilich unvermeidlich geworden, da ge¬
wisse Bestimmungen, wie das ausgedehnte und nicht fest genug begrenzte
Verordnungsrecht selbst nach der Ansicht der Doctrinären der Willkür der
Krone einen ungebührlichen Spielraum ließ und auch in Bezug auf das
Wahlgesetz einige Zugeständnisse an die Demokratie unerläßlich waren. Aber
die Doctrinären wollten die Revision auf wenige ausdrücklich bezeichnete
Ariikel beschränkt wissen und rasch zum Abschluß gebracht sehen, und vor
Allem das Grundgesetz vor der Neuerungssucht einer constituirenden Versamm¬
lung sicher stellen, die ohne Zweifel ihren Ehrgeiz darein gesetzt haben würde,
die Verfassung aus ihren Händen als ein neues Werk hervorgehen zu lassen.
Die gemäßigte Partei setzte ihren Zweck durch: die nothwendigsten Verände¬
rungen wurden rasch eingeführt, und die Revision des Artikels 23, die Erblich¬
keit der Pairwzürde betreffend, wurde vorbehalten, um bald darauf allerdings
in einer Weise durchgeführt zu werden, welche die Pairskammer der Grundlage
ihres Ansehns, ^r Erblichkeit beraubte: eine Maßregel, die von der öffent¬
lichen Meinung nit großem, vielleicht unwiderstehlichem Nachdruck gefordert
wurde, durch die ä^er. mochte sie auch der demokratischen Gleichheitsliebe und
dem Adelshaß des ^ürgerthums schmeicheln, der Freiheit ein schlechter Dienst
erwiesen wurde. Am dem Princip der Erblichkeit hatte die Pairskammer
während der Restauratim die Kraft geschöpft, wiederholt den reactionären
Bestrebungen der Regierwg einen mannhaften und erfolgreichen Widerstand
entgegenzusetzen. Nach Abchaffung der Erblichkeit war sie ein ohnmächtiges
und darum unnützes, ja süMiches Glied in dem constitutionellen Organis¬
mus geworden, unfähig, das Recht des Landes gegen die Revolution, aber


Schlagwörter überhoben sie sich der Mühe, ihre nebelhaften Wünsche in klar
umschriebene Forderungen zusammenzufassen.

Um so schärfer schieden sich die dynastische Linke und die Republikaner
von den Altliberalen, den Anhängern der bestehenden Verfassung, welche die¬
selbe mit Energie gegen die Angriffe der Ultras vertheidigt hatten und ent¬
schlossen waren, Alles aufzubieten, um sie ihrem wesentlichen Bestandtheil
nach aus dem Sturm der Revolution zu retten. Den Kern dieser Partei
bildeten die Doctrinären. Der Name war ihnen einst von den Royalisten
gegeben worden, um sie wegen ihres schroffen Festhaltens an der Charte
lächerlich zu machen; jetzt griffen die Radicalen ihn auf, um sie als Männer
der Theorie zu bezeichnen, die nicht wagten, die praktischen Konsequenzen
ihrer freisinnigen Grundsätze zu ziehen, und die Charte nur als Hemmschuh
des Fortschritts benutzen wollten. Ihr Festhalten an der Charte wurde
ihnen vom radicalen Standpunkte jetzt eben so zum Vorwurf gemacht, wie
einst von dem entgegengesetzten ultraroyalistischen Standpunkte aus.

Eine Revision der Charte war freilich unvermeidlich geworden, da ge¬
wisse Bestimmungen, wie das ausgedehnte und nicht fest genug begrenzte
Verordnungsrecht selbst nach der Ansicht der Doctrinären der Willkür der
Krone einen ungebührlichen Spielraum ließ und auch in Bezug auf das
Wahlgesetz einige Zugeständnisse an die Demokratie unerläßlich waren. Aber
die Doctrinären wollten die Revision auf wenige ausdrücklich bezeichnete
Ariikel beschränkt wissen und rasch zum Abschluß gebracht sehen, und vor
Allem das Grundgesetz vor der Neuerungssucht einer constituirenden Versamm¬
lung sicher stellen, die ohne Zweifel ihren Ehrgeiz darein gesetzt haben würde,
die Verfassung aus ihren Händen als ein neues Werk hervorgehen zu lassen.
Die gemäßigte Partei setzte ihren Zweck durch: die nothwendigsten Verände¬
rungen wurden rasch eingeführt, und die Revision des Artikels 23, die Erblich¬
keit der Pairwzürde betreffend, wurde vorbehalten, um bald darauf allerdings
in einer Weise durchgeführt zu werden, welche die Pairskammer der Grundlage
ihres Ansehns, ^r Erblichkeit beraubte: eine Maßregel, die von der öffent¬
lichen Meinung nit großem, vielleicht unwiderstehlichem Nachdruck gefordert
wurde, durch die ä^er. mochte sie auch der demokratischen Gleichheitsliebe und
dem Adelshaß des ^ürgerthums schmeicheln, der Freiheit ein schlechter Dienst
erwiesen wurde. Am dem Princip der Erblichkeit hatte die Pairskammer
während der Restauratim die Kraft geschöpft, wiederholt den reactionären
Bestrebungen der Regierwg einen mannhaften und erfolgreichen Widerstand
entgegenzusetzen. Nach Abchaffung der Erblichkeit war sie ein ohnmächtiges
und darum unnützes, ja süMiches Glied in dem constitutionellen Organis¬
mus geworden, unfähig, das Recht des Landes gegen die Revolution, aber


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/171>, abgerufen am 24.07.2024.