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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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fluß. -- Helden und Heldinnen gehen eigentlich nur in die Kirche, um Händel
anzufangen. -- In Absicht "auf Localität große Düsternheit." Was Goethe
mit diesen so sicher in's Schwarze treffenden Worten kurz andeutet, hat auch
Jordan erkannt; aber Letzterer ist von der Erkenntniß zur That übergegangen.
Mit gründlichsten Verständniß der ältesten deutschen Literatur ausgerüstet,
hat Jordan die ächten, altgermanischen Sagen frei gemacht von der zum Theil
schwerfällig derben, den schlanken Wuchs plump verunstaltenden mittelalter¬
lichen Hülle. Hier hätte ein Dichter ohne Gelehrsamkeit wohl nicht zum Ziele
gelangen können, noch weniger aber ein Gelehrter ohne dichterische Anlage.
Da galt es ein Sichten, ein Abwägen nicht nur auf der chronologischen Wage
des historischen Sinnes, sondern namentlich auf der Goldwage des poetisch
feinen Gefühls. Am interessantesten ist uns hierbei jedenfalls die Rückkehr
in'S germanische Heidenthum. Was der Dichter selbst von dieser und den
verwandten Religionsanschauungen der übrigen arischen Völker hält, spricht er
in seiner Abhandlung über das Kunstgesetz Homers aus, eine Abhandlung
übrigens, welche die weitverbreitete Anschauung, als sei das verständige, scharfe
Denken eine dem Dichter fern liegende Sache, gründlich widerlegt. Dort sagt
Jordan: "Die arischen Volker haben mit den tiefsten Schauern der Ver¬
ehrung und Andacht ein Ewiges, Unergründliches tief empfunden, ein Wollen
und Wirken, aus dem die Welt quelle, ein Göttliches, das in der Natur nach
Entfaltung strebe, ein Heiliges, das im Menschengeschlecht walte als dessen
Zucht und Sitte, um seine schönste Gestalt zu gewinnen. Sie haben immer
neue Lösungen des unendlichen Räthsels versucht und sehr wohl gewußt, daß
keine derselben genüge. So haben sie Götter gedichtet in Menschengestalt.
Sie aber haben es niemals ganz vergessen und umgedreht, daß die Götter
Geschöpfe des Menschen seien. Die Hellenen und Germanen wenigstens sind
niemals verzichtende Sclaven ihrer eigenen Phantasiebilder geworden. Sie
bewahrten sich stets ein Gefühl der Oberherrlichkeit und ein Recht, mit ihren
Gebilden frei zu spielen, um sich zu vergnügen, zu erbauen, zu erziehen.
Prometheus vergißt niemals, daß Er Amt und Ehren ausgetheilt an die
Götter und sie wieder zurück nehmen kann, um sie zu stürzen, wie er schon
zweimal ihren Sturz erlebt hat. Die weissagende Wala der Edda schaltet
nicht minder souverain mit ihren Asen; denn sie weiß ihren Ursprung, ahnt
ihren Untergang und schließt ihre erhabenen Nunensprüche gar oft mit der
Frage: wisset ihr. was das bedeutet? Sie weiß genau, auch diese Riesen¬
gestalten seien doch nur Hieroglyphen für Gedanken des größern Menschen."

"Die arischen Religionen waren keine Bußübung für die Sünde, geboren
zu sein, sondern Ermunterung, der Süße des Lebens zu genießen und Ehren¬
gebot, sein bitteres Leid zu ertragen mit mannhaften Stolz. Sie waren nicht
Zerknirschung und feige, bis zur Wiege vorgedehnte Todesangst, eingeimpft


fluß. — Helden und Heldinnen gehen eigentlich nur in die Kirche, um Händel
anzufangen. — In Absicht „auf Localität große Düsternheit." Was Goethe
mit diesen so sicher in's Schwarze treffenden Worten kurz andeutet, hat auch
Jordan erkannt; aber Letzterer ist von der Erkenntniß zur That übergegangen.
Mit gründlichsten Verständniß der ältesten deutschen Literatur ausgerüstet,
hat Jordan die ächten, altgermanischen Sagen frei gemacht von der zum Theil
schwerfällig derben, den schlanken Wuchs plump verunstaltenden mittelalter¬
lichen Hülle. Hier hätte ein Dichter ohne Gelehrsamkeit wohl nicht zum Ziele
gelangen können, noch weniger aber ein Gelehrter ohne dichterische Anlage.
Da galt es ein Sichten, ein Abwägen nicht nur auf der chronologischen Wage
des historischen Sinnes, sondern namentlich auf der Goldwage des poetisch
feinen Gefühls. Am interessantesten ist uns hierbei jedenfalls die Rückkehr
in'S germanische Heidenthum. Was der Dichter selbst von dieser und den
verwandten Religionsanschauungen der übrigen arischen Völker hält, spricht er
in seiner Abhandlung über das Kunstgesetz Homers aus, eine Abhandlung
übrigens, welche die weitverbreitete Anschauung, als sei das verständige, scharfe
Denken eine dem Dichter fern liegende Sache, gründlich widerlegt. Dort sagt
Jordan: „Die arischen Volker haben mit den tiefsten Schauern der Ver¬
ehrung und Andacht ein Ewiges, Unergründliches tief empfunden, ein Wollen
und Wirken, aus dem die Welt quelle, ein Göttliches, das in der Natur nach
Entfaltung strebe, ein Heiliges, das im Menschengeschlecht walte als dessen
Zucht und Sitte, um seine schönste Gestalt zu gewinnen. Sie haben immer
neue Lösungen des unendlichen Räthsels versucht und sehr wohl gewußt, daß
keine derselben genüge. So haben sie Götter gedichtet in Menschengestalt.
Sie aber haben es niemals ganz vergessen und umgedreht, daß die Götter
Geschöpfe des Menschen seien. Die Hellenen und Germanen wenigstens sind
niemals verzichtende Sclaven ihrer eigenen Phantasiebilder geworden. Sie
bewahrten sich stets ein Gefühl der Oberherrlichkeit und ein Recht, mit ihren
Gebilden frei zu spielen, um sich zu vergnügen, zu erbauen, zu erziehen.
Prometheus vergißt niemals, daß Er Amt und Ehren ausgetheilt an die
Götter und sie wieder zurück nehmen kann, um sie zu stürzen, wie er schon
zweimal ihren Sturz erlebt hat. Die weissagende Wala der Edda schaltet
nicht minder souverain mit ihren Asen; denn sie weiß ihren Ursprung, ahnt
ihren Untergang und schließt ihre erhabenen Nunensprüche gar oft mit der
Frage: wisset ihr. was das bedeutet? Sie weiß genau, auch diese Riesen¬
gestalten seien doch nur Hieroglyphen für Gedanken des größern Menschen."

„Die arischen Religionen waren keine Bußübung für die Sünde, geboren
zu sein, sondern Ermunterung, der Süße des Lebens zu genießen und Ehren¬
gebot, sein bitteres Leid zu ertragen mit mannhaften Stolz. Sie waren nicht
Zerknirschung und feige, bis zur Wiege vorgedehnte Todesangst, eingeimpft


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/154>, abgerufen am 24.07.2024.