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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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von der Herrschsucht zünftiger Priester, sondern freie Kunst, welche Göt¬
ter modelte, um darnach Menschen zu züchten/'

"Und diese Kunst, der zu dienen die heilige Aufgabe zumal des Epos ist,
wird immer wieder fähig der Ausübung und verständlich, wann unser Ge¬
schlecht seine Erdwurzeln wieder einmal befreit hat von ihrer gewaltsamen
Unterbindung." -- Soweit Jordan. Diese Befreiung nun der Erdwurzeln
unseres Geschlechts vollbringt er in einer Weise, daß man mit Staunen plötz¬
lich darüber zum Bewußtsein kommt, was einst das deutsche Volk an seiner
eigenen Religion gehabt hat. Man lese nach die keusche, heilige Natur¬
symbolik in der Sage vom Gotte Balder und die Räthsel, welche Brunhild dem
Könige Günther aufgibt.

Aber selbst der über so reichliche Plastik verfügende Dichter Jordan wäre
nimmer im Stande gewesen, mit einer poetischen Erneuerung und Verklärung
des germanischen Heidenthums und des Grundgedankens deutscher Heldensage
seine Zeitgenossen so zu fesseln und zu erbauen, daß ihm nun in fast hundert
Städten nahe an zweimalhunderttausend Zuhörer gelauscht haben, wenn nicht
das Allerheiligste der Religion unserer Altvordern zugleich der Hauptnerv der
neuen Religion unserer Gegenwart wäre, wenn nicht auch bei uns alle Be¬
gebenheiten und Regungen wiederum gipfelten in einer täglich mehr zur Er¬
kenntniß werdenden Ahnung der obersten Pflicht, durch leibliche Zucht den
Menschen göttlichen Idealen nachzumodeln. Sein Epos wäre wirkungslos,
wenn es das Christenthum ignoriren wollte. Was ihm aber zu Statten
kommt, ist der Umstand, daß daS germanische Heidenthum im innersten Kern
schon christlich war und christlich sein mußte, wenn unsre Vorfahren die neue
Religion so inbrünstig ergreifen sollten.

Der Schluß der Dichtung, -- es ist hier nur von dem im
Druck veröffentlichten ersten Theile die Rede, -- macht das so eben Ge¬
sagte deutlicher. Brunhilde und Chrimhilde versöhnen sich zuletzt nämlich an
der Leiche Sigfrieds. Ganz christlich! ruft man aus. Ganz menschlich gött¬
lich, --- beide Worte sollten ja synonym sein! -- entgegnen wir und fügen
bei: zugleich altheidnisch. Die Sage der Edda nämlich meldet auel die
Versöhnung der Königinnen; ja Jordan hat den'Schlußvers, womit seine
Dichtung schließt, von dort entlehnt. Und welche prächtige Parallele eröffnet
sich uns, wenn wir von Jordan's Epos auf den Schluß der Jliade hinüberblicken!
Auch dort nach allen den Siegen mit glänzenden Waffen als schönster Sieg
die Selbstüberwindung. Achill, der junge achäische Kriegsgott, und Priamos,
sein Feind, der alte König der Troer, schlummern versöhnt unter einem Zelt¬
dache. Der Schatten des erschlagenen Hektor trennt sie nicht. Ich weiß nicht,
ob man einem modernen Dichter, wenn Er diesen Schluß der Jliade erfunden
hätte, nicht würde zum Vorwurf gemacht haben: das sei ein christlicher Schluß.


von der Herrschsucht zünftiger Priester, sondern freie Kunst, welche Göt¬
ter modelte, um darnach Menschen zu züchten/'

„Und diese Kunst, der zu dienen die heilige Aufgabe zumal des Epos ist,
wird immer wieder fähig der Ausübung und verständlich, wann unser Ge¬
schlecht seine Erdwurzeln wieder einmal befreit hat von ihrer gewaltsamen
Unterbindung." — Soweit Jordan. Diese Befreiung nun der Erdwurzeln
unseres Geschlechts vollbringt er in einer Weise, daß man mit Staunen plötz¬
lich darüber zum Bewußtsein kommt, was einst das deutsche Volk an seiner
eigenen Religion gehabt hat. Man lese nach die keusche, heilige Natur¬
symbolik in der Sage vom Gotte Balder und die Räthsel, welche Brunhild dem
Könige Günther aufgibt.

Aber selbst der über so reichliche Plastik verfügende Dichter Jordan wäre
nimmer im Stande gewesen, mit einer poetischen Erneuerung und Verklärung
des germanischen Heidenthums und des Grundgedankens deutscher Heldensage
seine Zeitgenossen so zu fesseln und zu erbauen, daß ihm nun in fast hundert
Städten nahe an zweimalhunderttausend Zuhörer gelauscht haben, wenn nicht
das Allerheiligste der Religion unserer Altvordern zugleich der Hauptnerv der
neuen Religion unserer Gegenwart wäre, wenn nicht auch bei uns alle Be¬
gebenheiten und Regungen wiederum gipfelten in einer täglich mehr zur Er¬
kenntniß werdenden Ahnung der obersten Pflicht, durch leibliche Zucht den
Menschen göttlichen Idealen nachzumodeln. Sein Epos wäre wirkungslos,
wenn es das Christenthum ignoriren wollte. Was ihm aber zu Statten
kommt, ist der Umstand, daß daS germanische Heidenthum im innersten Kern
schon christlich war und christlich sein mußte, wenn unsre Vorfahren die neue
Religion so inbrünstig ergreifen sollten.

Der Schluß der Dichtung, — es ist hier nur von dem im
Druck veröffentlichten ersten Theile die Rede, — macht das so eben Ge¬
sagte deutlicher. Brunhilde und Chrimhilde versöhnen sich zuletzt nämlich an
der Leiche Sigfrieds. Ganz christlich! ruft man aus. Ganz menschlich gött¬
lich, —- beide Worte sollten ja synonym sein! — entgegnen wir und fügen
bei: zugleich altheidnisch. Die Sage der Edda nämlich meldet auel die
Versöhnung der Königinnen; ja Jordan hat den'Schlußvers, womit seine
Dichtung schließt, von dort entlehnt. Und welche prächtige Parallele eröffnet
sich uns, wenn wir von Jordan's Epos auf den Schluß der Jliade hinüberblicken!
Auch dort nach allen den Siegen mit glänzenden Waffen als schönster Sieg
die Selbstüberwindung. Achill, der junge achäische Kriegsgott, und Priamos,
sein Feind, der alte König der Troer, schlummern versöhnt unter einem Zelt¬
dache. Der Schatten des erschlagenen Hektor trennt sie nicht. Ich weiß nicht,
ob man einem modernen Dichter, wenn Er diesen Schluß der Jliade erfunden
hätte, nicht würde zum Vorwurf gemacht haben: das sei ein christlicher Schluß.


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[0155] von der Herrschsucht zünftiger Priester, sondern freie Kunst, welche Göt¬ ter modelte, um darnach Menschen zu züchten/' „Und diese Kunst, der zu dienen die heilige Aufgabe zumal des Epos ist, wird immer wieder fähig der Ausübung und verständlich, wann unser Ge¬ schlecht seine Erdwurzeln wieder einmal befreit hat von ihrer gewaltsamen Unterbindung." — Soweit Jordan. Diese Befreiung nun der Erdwurzeln unseres Geschlechts vollbringt er in einer Weise, daß man mit Staunen plötz¬ lich darüber zum Bewußtsein kommt, was einst das deutsche Volk an seiner eigenen Religion gehabt hat. Man lese nach die keusche, heilige Natur¬ symbolik in der Sage vom Gotte Balder und die Räthsel, welche Brunhild dem Könige Günther aufgibt. Aber selbst der über so reichliche Plastik verfügende Dichter Jordan wäre nimmer im Stande gewesen, mit einer poetischen Erneuerung und Verklärung des germanischen Heidenthums und des Grundgedankens deutscher Heldensage seine Zeitgenossen so zu fesseln und zu erbauen, daß ihm nun in fast hundert Städten nahe an zweimalhunderttausend Zuhörer gelauscht haben, wenn nicht das Allerheiligste der Religion unserer Altvordern zugleich der Hauptnerv der neuen Religion unserer Gegenwart wäre, wenn nicht auch bei uns alle Be¬ gebenheiten und Regungen wiederum gipfelten in einer täglich mehr zur Er¬ kenntniß werdenden Ahnung der obersten Pflicht, durch leibliche Zucht den Menschen göttlichen Idealen nachzumodeln. Sein Epos wäre wirkungslos, wenn es das Christenthum ignoriren wollte. Was ihm aber zu Statten kommt, ist der Umstand, daß daS germanische Heidenthum im innersten Kern schon christlich war und christlich sein mußte, wenn unsre Vorfahren die neue Religion so inbrünstig ergreifen sollten. Der Schluß der Dichtung, — es ist hier nur von dem im Druck veröffentlichten ersten Theile die Rede, — macht das so eben Ge¬ sagte deutlicher. Brunhilde und Chrimhilde versöhnen sich zuletzt nämlich an der Leiche Sigfrieds. Ganz christlich! ruft man aus. Ganz menschlich gött¬ lich, —- beide Worte sollten ja synonym sein! — entgegnen wir und fügen bei: zugleich altheidnisch. Die Sage der Edda nämlich meldet auel die Versöhnung der Königinnen; ja Jordan hat den'Schlußvers, womit seine Dichtung schließt, von dort entlehnt. Und welche prächtige Parallele eröffnet sich uns, wenn wir von Jordan's Epos auf den Schluß der Jliade hinüberblicken! Auch dort nach allen den Siegen mit glänzenden Waffen als schönster Sieg die Selbstüberwindung. Achill, der junge achäische Kriegsgott, und Priamos, sein Feind, der alte König der Troer, schlummern versöhnt unter einem Zelt¬ dache. Der Schatten des erschlagenen Hektor trennt sie nicht. Ich weiß nicht, ob man einem modernen Dichter, wenn Er diesen Schluß der Jliade erfunden hätte, nicht würde zum Vorwurf gemacht haben: das sei ein christlicher Schluß.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/155>, abgerufen am 24.07.2024.