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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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Kampf und Turnier. Hofdienst, Festgelagen und im Verkehr mit den Frauen
in voller Geltung; Künste und Gewerbe gewähren Schmuck und Behagen.
Nur das christlich-kirchliche Motiv, als dem Geiste der ganzen Dichtung
widerstrebend, ist fortgelassen, zum Vortheil der Wirkung."

Es müßte also ein moderner Leser der Dichtung seine Phantasie schon
vorher durch Romanlectüre ganz verdorben und gelähmt haben, wenn es
ihm schwer fallen sollte, in dieser Welt sich frei und mit Interesse zu bewe¬
gen. Daß es freilich solche belletristische Eintagsfliegen gibt, wer wollte
leugnen? Wer aber auch wollte wünschen, daß denselben Rechnung getragen
werde? Der Dichter hat wahrlich nicht die Aufgabe, der geistigen Verdum-
pfung einer viertelsgebildeten Mehrheit ungesunde Nahrung zu liefern, son¬
dern sein hohes Ziel ist die geistig-sittliche Hebung der Nation, die Läuterung
des Geschmacks. Nicht nach den Uebelständen, welche sind, sondern nach
den Jdealzuständen, welche sein sollen, richtet er sich und thut selbst das
Meiste, um diese Jdealzustände herbeizuführen.

Nach vier Richtungen hin erscheint nun Jordan in seiner Dichtung haupt¬
sächlich groß: einmal nämlich als Wiederhersteller des alten nationalen Epos!
sodann als schaffender Künstler im wohlberechneten Aufbau des Gedichtes;
drittens in der Pracht der Einzelheiten, als energisch schildernder Dichter;
endlich in feinem von hoher sittlicher Kraft zeugenden Glauben an den end¬
lichen Sieg des Schönen, welcher Glaube Jordan kühn, frei und sicher macht,
ihn den alten Stabvers wiederherstellen, ihn als wandernder Sänger durch
die Länder ziehen und fortwährend die Dichtung weiter vollenden heißt. Ge¬
lingt uns, nach diesen vier Richtungen hin den Leser über Jordan's dichte¬
rische Bedeutung zu orientiren, so dürfen wir hoffen, das Verständniß seiner
Dichtung näher zu führen, als wenn wir den Inhalt der Nibelungen von
Gesang zu Gesang angeben und analysiren wollten. Denn hierzu wäre kaum
der Raum vorhanden; zudem könnte der Leser beinahe in derselben Zeit, wo
er sich vom Recensenten nach dessen Gutdünken das Wasser in Krüger zu¬
messen läßt, unmittelbar aus dem Springquell selbst schöpfen.

Jordan ist zuerst groß, sagten wir, als Wiederhersteller des alten, na¬
tionalen Epos. Schon Goethe, als er im Jahre 1827 die Nibelungenüber¬
setzung C. Simrocks kennen lernte und eine Recensionsskizze dazu schrieb,
fühlte das Uralte des Stoffes aus dem mittelalterlichen Gedichte heraus. In
hingeworfenen, abgerissenen Worten, die er wohl später zu überarbeiten ge¬
dachte, äußert er sich hierüber folgendermaßen: "Uralter Stoff liegt zu
Grunde. -- Riesenmäßig. -- Aus dem höchsten Norden. -- Die Motive
durchaus sind grundheidnisch. - - Keine Spur von einer waltenden Gottheit. --
Alles den Menschen und gewissen imaginativen Mitbewohnern der Erde an¬
gehörig und überlassen. -- Der christliche Cultus ohne den mindesten Ein-


Grenzbotcn II. 1871. 19

Kampf und Turnier. Hofdienst, Festgelagen und im Verkehr mit den Frauen
in voller Geltung; Künste und Gewerbe gewähren Schmuck und Behagen.
Nur das christlich-kirchliche Motiv, als dem Geiste der ganzen Dichtung
widerstrebend, ist fortgelassen, zum Vortheil der Wirkung."

Es müßte also ein moderner Leser der Dichtung seine Phantasie schon
vorher durch Romanlectüre ganz verdorben und gelähmt haben, wenn es
ihm schwer fallen sollte, in dieser Welt sich frei und mit Interesse zu bewe¬
gen. Daß es freilich solche belletristische Eintagsfliegen gibt, wer wollte
leugnen? Wer aber auch wollte wünschen, daß denselben Rechnung getragen
werde? Der Dichter hat wahrlich nicht die Aufgabe, der geistigen Verdum-
pfung einer viertelsgebildeten Mehrheit ungesunde Nahrung zu liefern, son¬
dern sein hohes Ziel ist die geistig-sittliche Hebung der Nation, die Läuterung
des Geschmacks. Nicht nach den Uebelständen, welche sind, sondern nach
den Jdealzuständen, welche sein sollen, richtet er sich und thut selbst das
Meiste, um diese Jdealzustände herbeizuführen.

Nach vier Richtungen hin erscheint nun Jordan in seiner Dichtung haupt¬
sächlich groß: einmal nämlich als Wiederhersteller des alten nationalen Epos!
sodann als schaffender Künstler im wohlberechneten Aufbau des Gedichtes;
drittens in der Pracht der Einzelheiten, als energisch schildernder Dichter;
endlich in feinem von hoher sittlicher Kraft zeugenden Glauben an den end¬
lichen Sieg des Schönen, welcher Glaube Jordan kühn, frei und sicher macht,
ihn den alten Stabvers wiederherstellen, ihn als wandernder Sänger durch
die Länder ziehen und fortwährend die Dichtung weiter vollenden heißt. Ge¬
lingt uns, nach diesen vier Richtungen hin den Leser über Jordan's dichte¬
rische Bedeutung zu orientiren, so dürfen wir hoffen, das Verständniß seiner
Dichtung näher zu führen, als wenn wir den Inhalt der Nibelungen von
Gesang zu Gesang angeben und analysiren wollten. Denn hierzu wäre kaum
der Raum vorhanden; zudem könnte der Leser beinahe in derselben Zeit, wo
er sich vom Recensenten nach dessen Gutdünken das Wasser in Krüger zu¬
messen läßt, unmittelbar aus dem Springquell selbst schöpfen.

Jordan ist zuerst groß, sagten wir, als Wiederhersteller des alten, na¬
tionalen Epos. Schon Goethe, als er im Jahre 1827 die Nibelungenüber¬
setzung C. Simrocks kennen lernte und eine Recensionsskizze dazu schrieb,
fühlte das Uralte des Stoffes aus dem mittelalterlichen Gedichte heraus. In
hingeworfenen, abgerissenen Worten, die er wohl später zu überarbeiten ge¬
dachte, äußert er sich hierüber folgendermaßen: „Uralter Stoff liegt zu
Grunde. — Riesenmäßig. — Aus dem höchsten Norden. — Die Motive
durchaus sind grundheidnisch. - - Keine Spur von einer waltenden Gottheit. —
Alles den Menschen und gewissen imaginativen Mitbewohnern der Erde an¬
gehörig und überlassen. — Der christliche Cultus ohne den mindesten Ein-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/153>, abgerufen am 24.07.2024.