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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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für uns zu alt" -- und gleichzeitig die gelungene Bemühung des Dichters,
den alten, nationalen Stoff mit den Forderungen der modernsten Gegenwart
auszusöhnen, etwa als "modernes Verderben des edeln, alten Stoffes" be¬
zeichnen würde.

Freilich, wo etwa ein solcher Vorwurf sich hervorwagt, da äußert man
denselben nicht ohne "gerechte Würdigung der großen Schwierigkeiten, welche
die Behandlung eines so alten Stoffes dem modernen Dichter entgegensetzt."
Diese Schwierigkeiten sind auch auf den ersten Blick groß genug. Der Dichter
muß uns ja doch natürlich in das Costüme des -heidnischen Germanenthums
hineinversetzen. Wie wenig Anhaltspunkte hat er für diese Zeit! Welche
Vorstudien muß er erst machen! Und sicherlich werden seine gelehrten Vor¬
studien die poetische Gluth einigermaßen kalten, vielleicht sogar in das Gedicht
selbst eindringen und dasselbe ziemlich ungenießbar machen.

So geht es allerdings manchem Poeten, der einen alten Stoff sich wählt
und vor lauter Angst, mit den Gelehrten in Streit zu kommen, seinen Pinsel
nur zaghaft führt, daher denn auch nur ein akademisches Gemälde mit rich¬
tigem Faltenwurf, aber kein lebensvolles Kunstwerk zu Stande bringt.

Jordan aber vermeidet die Charybdis der frostigen Gelehrtenpoesie und
fällt doch auch nicht in die Scylla Hans Sächsischer Anachronismen, welche
zu ertragen wir allerdings nicht mehr naiv genug sind. Vorerst modelt Jor¬
dan ächte Menschen, und diesen wird, -- wie Goethe von Shakespeares Ge¬
stalten sagt, -- die Toga und am Ende auch die altdeutsche Brüne zu
Gesicht stehn. Von Raphael ist jetzt bekannt, daß er auf allen seinen Ge¬
mälden, auch auf den Madonnenbildern, die Figuren zuerst nackt entworfen
und dann erst die Gewandung hinzugefügt hat. So gewissermaßen auch Jor¬
dan. Zunächst unbekümmert um die weitere Bekleidung gibt er uns in den
Gebilden seiner Phantasie ächte Menschen, wie wir sind, Fleisch von unserm
Fleisch und Blut von unserm Blut, Menschen, die natürlich fühlen, sich
sehnen, verzagen, lieben, hassen, sterben, wie wir. Wir lernen kennen den
jugendfrohen, starken Jüngling in der Unermeßlichkeit seiner hoffenden Wünsche,
die liebliche, liebende Jungfrau, den bequemen, vom Schicksal auf die höchste
Stufe gestellten, genießenden Mann, das in seinem innersten Heiligthum tief
verletzte, haßerfüllte Weib, dazu die innig fühlende, unglückliche Mutter; --
was fragen wir darnach, in welchem Gewände uns diese Menschen begegnen!

Doch müssen sie schließlich irgend ein Gewand bekommen. Und da nenne
ich es mit F. Kreyssig (Danziger Zeitung Octbr. 1868) von Seite des Dich¬
ters einen "kühnen und glücklichen Griff, daß er die Lebensformen für die
von ihm geschilderte Gesellschaft der mittelalterlichen Hochcultur entnommen
hat, für die es uns an vermittelnden Anschauungen nicht fehlt. Die Rechts¬
verhältnisse des Lehnsstaates beherrschen das Leben, ritterliche Sitte ist in


für uns zu alt" — und gleichzeitig die gelungene Bemühung des Dichters,
den alten, nationalen Stoff mit den Forderungen der modernsten Gegenwart
auszusöhnen, etwa als „modernes Verderben des edeln, alten Stoffes" be¬
zeichnen würde.

Freilich, wo etwa ein solcher Vorwurf sich hervorwagt, da äußert man
denselben nicht ohne „gerechte Würdigung der großen Schwierigkeiten, welche
die Behandlung eines so alten Stoffes dem modernen Dichter entgegensetzt."
Diese Schwierigkeiten sind auch auf den ersten Blick groß genug. Der Dichter
muß uns ja doch natürlich in das Costüme des -heidnischen Germanenthums
hineinversetzen. Wie wenig Anhaltspunkte hat er für diese Zeit! Welche
Vorstudien muß er erst machen! Und sicherlich werden seine gelehrten Vor¬
studien die poetische Gluth einigermaßen kalten, vielleicht sogar in das Gedicht
selbst eindringen und dasselbe ziemlich ungenießbar machen.

So geht es allerdings manchem Poeten, der einen alten Stoff sich wählt
und vor lauter Angst, mit den Gelehrten in Streit zu kommen, seinen Pinsel
nur zaghaft führt, daher denn auch nur ein akademisches Gemälde mit rich¬
tigem Faltenwurf, aber kein lebensvolles Kunstwerk zu Stande bringt.

Jordan aber vermeidet die Charybdis der frostigen Gelehrtenpoesie und
fällt doch auch nicht in die Scylla Hans Sächsischer Anachronismen, welche
zu ertragen wir allerdings nicht mehr naiv genug sind. Vorerst modelt Jor¬
dan ächte Menschen, und diesen wird, — wie Goethe von Shakespeares Ge¬
stalten sagt, — die Toga und am Ende auch die altdeutsche Brüne zu
Gesicht stehn. Von Raphael ist jetzt bekannt, daß er auf allen seinen Ge¬
mälden, auch auf den Madonnenbildern, die Figuren zuerst nackt entworfen
und dann erst die Gewandung hinzugefügt hat. So gewissermaßen auch Jor¬
dan. Zunächst unbekümmert um die weitere Bekleidung gibt er uns in den
Gebilden seiner Phantasie ächte Menschen, wie wir sind, Fleisch von unserm
Fleisch und Blut von unserm Blut, Menschen, die natürlich fühlen, sich
sehnen, verzagen, lieben, hassen, sterben, wie wir. Wir lernen kennen den
jugendfrohen, starken Jüngling in der Unermeßlichkeit seiner hoffenden Wünsche,
die liebliche, liebende Jungfrau, den bequemen, vom Schicksal auf die höchste
Stufe gestellten, genießenden Mann, das in seinem innersten Heiligthum tief
verletzte, haßerfüllte Weib, dazu die innig fühlende, unglückliche Mutter; —
was fragen wir darnach, in welchem Gewände uns diese Menschen begegnen!

Doch müssen sie schließlich irgend ein Gewand bekommen. Und da nenne
ich es mit F. Kreyssig (Danziger Zeitung Octbr. 1868) von Seite des Dich¬
ters einen „kühnen und glücklichen Griff, daß er die Lebensformen für die
von ihm geschilderte Gesellschaft der mittelalterlichen Hochcultur entnommen
hat, für die es uns an vermittelnden Anschauungen nicht fehlt. Die Rechts¬
verhältnisse des Lehnsstaates beherrschen das Leben, ritterliche Sitte ist in


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/152>, abgerufen am 24.07.2024.