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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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gebrachten Argumenten zu ruhen. Hier sind vielmehr einfachere Beweismittel
ausreichend.

sonnenklar ist, daß der Vorwurf: "Zu alter Stoff" nur dann kräftig
ist, wenn er so viel sagen will als "veralteter Stoff, der kein^ Interesse mehr
weckt." Wer wollte aber von der Nibelungensage behaupten, sie sei veraltet?
So wenig auch das altdeutsche Gedicht in seiner bisherigen Gestalt den künst¬
lerischen Anforderungen eines geläuterten Geschmackes in allen Theilen zu
entsprechen vermochte, so nahe damit also die Möglichkeit gelegt war, daß
das Gedicht ganz in Vergessenheit gerathe, -- hat sich wunderbarer
Weise doch erhalten, nicht nur auf dem Katheder der Germanisten, fon¬
dern im Volksbewußtsein selbst. Verschiedene Künstler haben immer und
immer wieder den Stoff zu ihren genialsten Conceptionen dem Kreise der.
Nibelungensage entlehnt. Man denke an die Nibelungensäle in München,
an die dramatischen Bearbeitungen Hebbel's und Geibel's, an die musikalisch¬
dramatischen Richard Wagnee's. In den Schulen, nicht nur in Knaben¬
schulen, wird das Gedicht, wenn nicht gelesen, so doch seinem Inhalt nach
erzählt. Gute Geschichtswerke, auch für die weibliche Jugend z. B. Oeser,--
bringen in gehobener Prosa Auszüge aus der Dichtung. Ja, mit Freuden
sei hervorgehoben, daß in östreichische Schulbücher bereits ganze Stücke aus
Jordan's Neudichtung übergegangen sind. Mit Recht spricht daher Dr. Röpe
aus Hamburg in seinem guten Buche über Jordan's Dichtung aus, daß er
den Leser bedauern müßte, der noch "einer Balancirstange der Gelehrsamkeit"
bedürfte, um die Kluft zu überspringen, die ihn von den Gestalten dieser
Dichtung trennt. Er macht diese Bemerkung, indem er die Gestalt Mines,
des zwerghaften Pflegers Sigfrieds hervorhebt und in ihr den Typus der
naturwüchsigen Kraft, Tüchtigkeit und Hingebung des deutschen "kleinen
Mannes" findet, gerade so wie ihm Sigfried der wahrhaft deutsche Held,
dann der Typus des deutschen Volkscharakters und endlich das Symbol des
deutschen Volks in seiner welthistorischen Bedeutung ist. Es hieße muthwillig
eine der kräftigsten, tiefsten Wurzeln des deutschen Wesens verkennen, wenn
man der Nibelungensage ihre ewige nationale Bedeutung absprechen wollte.
Das deutsche Volk ist nicht ein Volk von heute, gestern und ehegestern; mehr
als ein anderes hat es die Verpflichtung und durch seine Bildung auch die
Möglichkeit, in jedem Augenblick mit dem Bewußtsein seiner ganzen Ver¬
gangenheit zu leben. Dies ist auch seiner tief gemüthlichen Natur angemessen.
Die Pflicht seiner Erzieher und Bildner aber wird sein, den Zusammenhang
der Gegenwart mit der Vergangenheit treu zu vermitteln und, wo derselbe
etwa unterbrochen ist, ihn wieder herzustellen.

Es wäre somit eine seltsame Vereinigung von Irrthum und Undankbar¬
keit, wenn man Jordan zurufen wollte: "Der Stoff zu Deinem Gedichte ist


gebrachten Argumenten zu ruhen. Hier sind vielmehr einfachere Beweismittel
ausreichend.

sonnenklar ist, daß der Vorwurf: „Zu alter Stoff" nur dann kräftig
ist, wenn er so viel sagen will als „veralteter Stoff, der kein^ Interesse mehr
weckt." Wer wollte aber von der Nibelungensage behaupten, sie sei veraltet?
So wenig auch das altdeutsche Gedicht in seiner bisherigen Gestalt den künst¬
lerischen Anforderungen eines geläuterten Geschmackes in allen Theilen zu
entsprechen vermochte, so nahe damit also die Möglichkeit gelegt war, daß
das Gedicht ganz in Vergessenheit gerathe, — hat sich wunderbarer
Weise doch erhalten, nicht nur auf dem Katheder der Germanisten, fon¬
dern im Volksbewußtsein selbst. Verschiedene Künstler haben immer und
immer wieder den Stoff zu ihren genialsten Conceptionen dem Kreise der.
Nibelungensage entlehnt. Man denke an die Nibelungensäle in München,
an die dramatischen Bearbeitungen Hebbel's und Geibel's, an die musikalisch¬
dramatischen Richard Wagnee's. In den Schulen, nicht nur in Knaben¬
schulen, wird das Gedicht, wenn nicht gelesen, so doch seinem Inhalt nach
erzählt. Gute Geschichtswerke, auch für die weibliche Jugend z. B. Oeser,—
bringen in gehobener Prosa Auszüge aus der Dichtung. Ja, mit Freuden
sei hervorgehoben, daß in östreichische Schulbücher bereits ganze Stücke aus
Jordan's Neudichtung übergegangen sind. Mit Recht spricht daher Dr. Röpe
aus Hamburg in seinem guten Buche über Jordan's Dichtung aus, daß er
den Leser bedauern müßte, der noch „einer Balancirstange der Gelehrsamkeit"
bedürfte, um die Kluft zu überspringen, die ihn von den Gestalten dieser
Dichtung trennt. Er macht diese Bemerkung, indem er die Gestalt Mines,
des zwerghaften Pflegers Sigfrieds hervorhebt und in ihr den Typus der
naturwüchsigen Kraft, Tüchtigkeit und Hingebung des deutschen „kleinen
Mannes" findet, gerade so wie ihm Sigfried der wahrhaft deutsche Held,
dann der Typus des deutschen Volkscharakters und endlich das Symbol des
deutschen Volks in seiner welthistorischen Bedeutung ist. Es hieße muthwillig
eine der kräftigsten, tiefsten Wurzeln des deutschen Wesens verkennen, wenn
man der Nibelungensage ihre ewige nationale Bedeutung absprechen wollte.
Das deutsche Volk ist nicht ein Volk von heute, gestern und ehegestern; mehr
als ein anderes hat es die Verpflichtung und durch seine Bildung auch die
Möglichkeit, in jedem Augenblick mit dem Bewußtsein seiner ganzen Ver¬
gangenheit zu leben. Dies ist auch seiner tief gemüthlichen Natur angemessen.
Die Pflicht seiner Erzieher und Bildner aber wird sein, den Zusammenhang
der Gegenwart mit der Vergangenheit treu zu vermitteln und, wo derselbe
etwa unterbrochen ist, ihn wieder herzustellen.

Es wäre somit eine seltsame Vereinigung von Irrthum und Undankbar¬
keit, wenn man Jordan zurufen wollte: „Der Stoff zu Deinem Gedichte ist


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[0151] gebrachten Argumenten zu ruhen. Hier sind vielmehr einfachere Beweismittel ausreichend. sonnenklar ist, daß der Vorwurf: „Zu alter Stoff" nur dann kräftig ist, wenn er so viel sagen will als „veralteter Stoff, der kein^ Interesse mehr weckt." Wer wollte aber von der Nibelungensage behaupten, sie sei veraltet? So wenig auch das altdeutsche Gedicht in seiner bisherigen Gestalt den künst¬ lerischen Anforderungen eines geläuterten Geschmackes in allen Theilen zu entsprechen vermochte, so nahe damit also die Möglichkeit gelegt war, daß das Gedicht ganz in Vergessenheit gerathe, — hat sich wunderbarer Weise doch erhalten, nicht nur auf dem Katheder der Germanisten, fon¬ dern im Volksbewußtsein selbst. Verschiedene Künstler haben immer und immer wieder den Stoff zu ihren genialsten Conceptionen dem Kreise der. Nibelungensage entlehnt. Man denke an die Nibelungensäle in München, an die dramatischen Bearbeitungen Hebbel's und Geibel's, an die musikalisch¬ dramatischen Richard Wagnee's. In den Schulen, nicht nur in Knaben¬ schulen, wird das Gedicht, wenn nicht gelesen, so doch seinem Inhalt nach erzählt. Gute Geschichtswerke, auch für die weibliche Jugend z. B. Oeser,— bringen in gehobener Prosa Auszüge aus der Dichtung. Ja, mit Freuden sei hervorgehoben, daß in östreichische Schulbücher bereits ganze Stücke aus Jordan's Neudichtung übergegangen sind. Mit Recht spricht daher Dr. Röpe aus Hamburg in seinem guten Buche über Jordan's Dichtung aus, daß er den Leser bedauern müßte, der noch „einer Balancirstange der Gelehrsamkeit" bedürfte, um die Kluft zu überspringen, die ihn von den Gestalten dieser Dichtung trennt. Er macht diese Bemerkung, indem er die Gestalt Mines, des zwerghaften Pflegers Sigfrieds hervorhebt und in ihr den Typus der naturwüchsigen Kraft, Tüchtigkeit und Hingebung des deutschen „kleinen Mannes" findet, gerade so wie ihm Sigfried der wahrhaft deutsche Held, dann der Typus des deutschen Volkscharakters und endlich das Symbol des deutschen Volks in seiner welthistorischen Bedeutung ist. Es hieße muthwillig eine der kräftigsten, tiefsten Wurzeln des deutschen Wesens verkennen, wenn man der Nibelungensage ihre ewige nationale Bedeutung absprechen wollte. Das deutsche Volk ist nicht ein Volk von heute, gestern und ehegestern; mehr als ein anderes hat es die Verpflichtung und durch seine Bildung auch die Möglichkeit, in jedem Augenblick mit dem Bewußtsein seiner ganzen Ver¬ gangenheit zu leben. Dies ist auch seiner tief gemüthlichen Natur angemessen. Die Pflicht seiner Erzieher und Bildner aber wird sein, den Zusammenhang der Gegenwart mit der Vergangenheit treu zu vermitteln und, wo derselbe etwa unterbrochen ist, ihn wieder herzustellen. Es wäre somit eine seltsame Vereinigung von Irrthum und Undankbar¬ keit, wenn man Jordan zurufen wollte: „Der Stoff zu Deinem Gedichte ist

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/151>, abgerufen am 24.07.2024.