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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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Gelegenheit genug gefunden, durch Berührung mit immer neuen Menschen
sich zu erfrischen und das Leben in tausend wechselnden Formen zu beobach¬
ten, ja recht eigentlich täglich nicht nur den Schatz seiner Abstractionen, son¬
dern den für den Künstler noch ungleich werthvollern Schatz bunter, reicher
Lebensbilder ins Unendliche wachsen zu sehen. So darf also Jordan wohl
als ein moderner Dichter gelten und zu seinem Ruhme wird das sonst als
Vorwurf gemeinte Wort verwandelt.

Aber weßhalb wählt er sich dann nicht einen modernen Stoff? Weshalb
entnimmt er ihn dem germanischen Alterthum? Da muß es ja zu jener ge¬
fährlichen Kluft kommen. -- Viele sind es. die das einwenden und unter
ihnen der Mann, welchen Deutschland mit Recht als Dichter und ernsten,
gerechten Kritiker hochverehrt, -- Rudolf Gottschall. Seit vielen Jahren
schon kämpft Gottschall gegen die Wahl von dichterischen Stoffen, welche über
die Reformationszeit hinaus rückwärtsgreifen. Eine solche Theorie ist nun
freilich ein gute Wehr und Waffen gegen die frostigen, akademischen Grie¬
chen- und Nömertragödien, diese dem jungen Dichter so ungemein nützlichen,
dem Publicum aber mit Recht langweiligen Studienstücke; wer will da dem
Kritiker verdenken, wenn er das lesende Publicum mit allen Mitteln vor
solchen Versuchen zu bewahren sucht? Aber gegen den wahren Dichter taugt
dieser Harnisch nicht viel. Der ächte Genius wird bei mächtiger Gestaltungs¬
kraft und Gestaltungslust auch den scheinbar fernsten, ältesten Stoff so bewäl¬
tigen, daß daraus ein bleibendes Kunstwerk hervorgeht. Noah, Prometheus
oder Faust -- das bleibt sich Alles gleich, wenn nur die verarbeitende Kraft
vorhanden ist, die den Stoff der Nation und dem Jahrhundert assimilirt.
Auch liegen ja oft uralte Stoffe dem Volksbewußtsein unendlich näher als
sehr moderne, so z. B. die biblischen. König David ist dem gemeinen Mann
fast so vertraut, als der Held des siebenjährigen Krieges. Was den Gebil¬
deten aber betrifft, so sollte er bei den wissenschaftlichen Hilfsmitteln unserer
Zeit überall zu Hause sein, so daß ihn kein Stoff zu fremdartig berühren
dürfte, vorausgesetzt, daß der Dichter ein lebensvolles Werk daraus geschaffen
hat. Endlich ist für diese Frage die Thatsache wohl entscheidend, daß der
Dichter, und schriebe er auch nur Dorfgeschichten, doch niemals die baare
Wirklichkeit geben kann, sondern unter allen Umständen eines Traum- oder
Jdealreiches bedürftig ist. Weßhalb sollte ihm versagt sein, unter diesen
Jdealreichen jedesmal dasjenige auszuwählen, welches als das der Idee ange¬
messenste ihm erscheint? Und wer wird dann noch ängstlich die Wegstunden
zählen, wo einmal tragende, hebende Flügel sind? --

Ist nun dieß im Allgemeinen zum Schutz der absolut freien dichterischen
Stoffwahl gesagt, so braucht die Vertheidigung Jordan's gegen den Vorwurf,
daß er einen so alten Stoff gewählt habe, nicht hauptsächlich auf den vor-


Gelegenheit genug gefunden, durch Berührung mit immer neuen Menschen
sich zu erfrischen und das Leben in tausend wechselnden Formen zu beobach¬
ten, ja recht eigentlich täglich nicht nur den Schatz seiner Abstractionen, son¬
dern den für den Künstler noch ungleich werthvollern Schatz bunter, reicher
Lebensbilder ins Unendliche wachsen zu sehen. So darf also Jordan wohl
als ein moderner Dichter gelten und zu seinem Ruhme wird das sonst als
Vorwurf gemeinte Wort verwandelt.

Aber weßhalb wählt er sich dann nicht einen modernen Stoff? Weshalb
entnimmt er ihn dem germanischen Alterthum? Da muß es ja zu jener ge¬
fährlichen Kluft kommen. — Viele sind es. die das einwenden und unter
ihnen der Mann, welchen Deutschland mit Recht als Dichter und ernsten,
gerechten Kritiker hochverehrt, — Rudolf Gottschall. Seit vielen Jahren
schon kämpft Gottschall gegen die Wahl von dichterischen Stoffen, welche über
die Reformationszeit hinaus rückwärtsgreifen. Eine solche Theorie ist nun
freilich ein gute Wehr und Waffen gegen die frostigen, akademischen Grie¬
chen- und Nömertragödien, diese dem jungen Dichter so ungemein nützlichen,
dem Publicum aber mit Recht langweiligen Studienstücke; wer will da dem
Kritiker verdenken, wenn er das lesende Publicum mit allen Mitteln vor
solchen Versuchen zu bewahren sucht? Aber gegen den wahren Dichter taugt
dieser Harnisch nicht viel. Der ächte Genius wird bei mächtiger Gestaltungs¬
kraft und Gestaltungslust auch den scheinbar fernsten, ältesten Stoff so bewäl¬
tigen, daß daraus ein bleibendes Kunstwerk hervorgeht. Noah, Prometheus
oder Faust — das bleibt sich Alles gleich, wenn nur die verarbeitende Kraft
vorhanden ist, die den Stoff der Nation und dem Jahrhundert assimilirt.
Auch liegen ja oft uralte Stoffe dem Volksbewußtsein unendlich näher als
sehr moderne, so z. B. die biblischen. König David ist dem gemeinen Mann
fast so vertraut, als der Held des siebenjährigen Krieges. Was den Gebil¬
deten aber betrifft, so sollte er bei den wissenschaftlichen Hilfsmitteln unserer
Zeit überall zu Hause sein, so daß ihn kein Stoff zu fremdartig berühren
dürfte, vorausgesetzt, daß der Dichter ein lebensvolles Werk daraus geschaffen
hat. Endlich ist für diese Frage die Thatsache wohl entscheidend, daß der
Dichter, und schriebe er auch nur Dorfgeschichten, doch niemals die baare
Wirklichkeit geben kann, sondern unter allen Umständen eines Traum- oder
Jdealreiches bedürftig ist. Weßhalb sollte ihm versagt sein, unter diesen
Jdealreichen jedesmal dasjenige auszuwählen, welches als das der Idee ange¬
messenste ihm erscheint? Und wer wird dann noch ängstlich die Wegstunden
zählen, wo einmal tragende, hebende Flügel sind? —

Ist nun dieß im Allgemeinen zum Schutz der absolut freien dichterischen
Stoffwahl gesagt, so braucht die Vertheidigung Jordan's gegen den Vorwurf,
daß er einen so alten Stoff gewählt habe, nicht hauptsächlich auf den vor-


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[0150] Gelegenheit genug gefunden, durch Berührung mit immer neuen Menschen sich zu erfrischen und das Leben in tausend wechselnden Formen zu beobach¬ ten, ja recht eigentlich täglich nicht nur den Schatz seiner Abstractionen, son¬ dern den für den Künstler noch ungleich werthvollern Schatz bunter, reicher Lebensbilder ins Unendliche wachsen zu sehen. So darf also Jordan wohl als ein moderner Dichter gelten und zu seinem Ruhme wird das sonst als Vorwurf gemeinte Wort verwandelt. Aber weßhalb wählt er sich dann nicht einen modernen Stoff? Weshalb entnimmt er ihn dem germanischen Alterthum? Da muß es ja zu jener ge¬ fährlichen Kluft kommen. — Viele sind es. die das einwenden und unter ihnen der Mann, welchen Deutschland mit Recht als Dichter und ernsten, gerechten Kritiker hochverehrt, — Rudolf Gottschall. Seit vielen Jahren schon kämpft Gottschall gegen die Wahl von dichterischen Stoffen, welche über die Reformationszeit hinaus rückwärtsgreifen. Eine solche Theorie ist nun freilich ein gute Wehr und Waffen gegen die frostigen, akademischen Grie¬ chen- und Nömertragödien, diese dem jungen Dichter so ungemein nützlichen, dem Publicum aber mit Recht langweiligen Studienstücke; wer will da dem Kritiker verdenken, wenn er das lesende Publicum mit allen Mitteln vor solchen Versuchen zu bewahren sucht? Aber gegen den wahren Dichter taugt dieser Harnisch nicht viel. Der ächte Genius wird bei mächtiger Gestaltungs¬ kraft und Gestaltungslust auch den scheinbar fernsten, ältesten Stoff so bewäl¬ tigen, daß daraus ein bleibendes Kunstwerk hervorgeht. Noah, Prometheus oder Faust — das bleibt sich Alles gleich, wenn nur die verarbeitende Kraft vorhanden ist, die den Stoff der Nation und dem Jahrhundert assimilirt. Auch liegen ja oft uralte Stoffe dem Volksbewußtsein unendlich näher als sehr moderne, so z. B. die biblischen. König David ist dem gemeinen Mann fast so vertraut, als der Held des siebenjährigen Krieges. Was den Gebil¬ deten aber betrifft, so sollte er bei den wissenschaftlichen Hilfsmitteln unserer Zeit überall zu Hause sein, so daß ihn kein Stoff zu fremdartig berühren dürfte, vorausgesetzt, daß der Dichter ein lebensvolles Werk daraus geschaffen hat. Endlich ist für diese Frage die Thatsache wohl entscheidend, daß der Dichter, und schriebe er auch nur Dorfgeschichten, doch niemals die baare Wirklichkeit geben kann, sondern unter allen Umständen eines Traum- oder Jdealreiches bedürftig ist. Weßhalb sollte ihm versagt sein, unter diesen Jdealreichen jedesmal dasjenige auszuwählen, welches als das der Idee ange¬ messenste ihm erscheint? Und wer wird dann noch ängstlich die Wegstunden zählen, wo einmal tragende, hebende Flügel sind? — Ist nun dieß im Allgemeinen zum Schutz der absolut freien dichterischen Stoffwahl gesagt, so braucht die Vertheidigung Jordan's gegen den Vorwurf, daß er einen so alten Stoff gewählt habe, nicht hauptsächlich auf den vor-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/150>, abgerufen am 24.07.2024.