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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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großen Städte Frankreichs, vorzüglich über alle Fabrikorte, aus. Zuletzt ver¬
suchte Cabet mit einigen Hunderten seiner Jünger seine Lehre in die Wirk¬
lichkeit zu übertragen, indem er mit denselben nach dem Staat Illinois aus¬
wanderte, wo er sich in der von den Mormonen verlassenen Stadt Nauvoo
niederließ. Selbstverständlich machte er, der ehrliche Phantast, auf dem Boden
der reinpraktischen Weltanschauung hiermit kläglich Fiasco. Seine Lehre
aber erhielt sich, von Schülern in einigen Punkten verändert, in den untern
Klassen Frankreichs und gewann immer neue Anhänger unter denselben.

Die Grundzüge dieser Lehre, von Cabet selbst in ein weitverbreitetes
Glaubensbekenntniß zusammengefaßt, sind folgende: Es giebt einen wohl¬
thätigen Urgrund aller Dinge, dessen Wesen und Natur aber näher zu be¬
stimmen bei der Schwäche des menschlichen Erkenntnißvermögens nicht möglich
ist. Die Ehe und das Familienleben sind die dem Verhältniß der Geschlechter
zu einander und der Eltern zu den Kindern angemessensten Formen der per¬
sönlichen Gemeinschaft. Dagegen sind die politische und gesellschaftliche Un¬
gleichheit und insbesondre das Eigenthumsrecht und die Veräußerlichkeit des
Besitzes die Quellen aller Laster der Reichen wie der Armen und die unselig¬
sten und heillosesten aller Irrthümer. Darum fordert Cabet, ohne in der
monarchischen Staatsform die alleinige Ursache alles Unheils und Unfugs
auf Erden zu erblicken, daß das "aristokratische System", d. h. die staatliche
und gesellschaftliche Ungleichheit der Menschen, durch die Demokratie, d. h. die
Gleichheit, ersetzt werde. Er verlangt als Ideal die Gütergemeinschaft, die
Gleichheit in Rechten und Pflichten, in der Arbeit und im Genuß bis zur
Grenze des Möglichen. Das Nationalgebiet soll in seinem idealen Staat als
gemeinschaftliches Besitzthum nach den Bestimmungen der Gesellschaft ver¬
waltet, von den Bürgern bebaut, und alle Erzeugnisse sollen von Beamten
der Gesellschaft eingesammelt, in Staatsmagazine gebracht und aus denselben
allen Angehörigen der großen Gesammtgemeinde nach gleichen Grundsätzen zu¬
getheilt werden. In derselben Weise will Cabet die gewerbliche Thätigkeit
nach ihren verschiedenen Zweigen als eine einzige sociale angesehen und einer
einheitlichen Leitung unterworfen wissen. Die Grundlagen dieser Gemeinschaft
soll eine allen jungen Bürgern in gleichem Maße zu ertheilende Erziehung
schaffen.

Cabet meint, daß dieses System eine höhere Entwicklung der schönen
Künste zulasse. Er ist übrigens, hierin von seinen meisten Vorgängern und
Nachfolgern wesentlich verschieden, ein durchaus friedlicher Prophet und Welt¬
verbesserer. Seine sociale Umgestaltung soll nur auf dem Wege der Beleh¬
rung und Ueberzeugung vor sich gehen, sich durch die Zustimmung Aller oder
doch der großen Mehrzahl vollziehen. Darum soll die gegenwärtige Generation
weder ihres Eigenthums beraubt, noch zur Arbeit gezwungen werden, indem


großen Städte Frankreichs, vorzüglich über alle Fabrikorte, aus. Zuletzt ver¬
suchte Cabet mit einigen Hunderten seiner Jünger seine Lehre in die Wirk¬
lichkeit zu übertragen, indem er mit denselben nach dem Staat Illinois aus¬
wanderte, wo er sich in der von den Mormonen verlassenen Stadt Nauvoo
niederließ. Selbstverständlich machte er, der ehrliche Phantast, auf dem Boden
der reinpraktischen Weltanschauung hiermit kläglich Fiasco. Seine Lehre
aber erhielt sich, von Schülern in einigen Punkten verändert, in den untern
Klassen Frankreichs und gewann immer neue Anhänger unter denselben.

Die Grundzüge dieser Lehre, von Cabet selbst in ein weitverbreitetes
Glaubensbekenntniß zusammengefaßt, sind folgende: Es giebt einen wohl¬
thätigen Urgrund aller Dinge, dessen Wesen und Natur aber näher zu be¬
stimmen bei der Schwäche des menschlichen Erkenntnißvermögens nicht möglich
ist. Die Ehe und das Familienleben sind die dem Verhältniß der Geschlechter
zu einander und der Eltern zu den Kindern angemessensten Formen der per¬
sönlichen Gemeinschaft. Dagegen sind die politische und gesellschaftliche Un¬
gleichheit und insbesondre das Eigenthumsrecht und die Veräußerlichkeit des
Besitzes die Quellen aller Laster der Reichen wie der Armen und die unselig¬
sten und heillosesten aller Irrthümer. Darum fordert Cabet, ohne in der
monarchischen Staatsform die alleinige Ursache alles Unheils und Unfugs
auf Erden zu erblicken, daß das „aristokratische System", d. h. die staatliche
und gesellschaftliche Ungleichheit der Menschen, durch die Demokratie, d. h. die
Gleichheit, ersetzt werde. Er verlangt als Ideal die Gütergemeinschaft, die
Gleichheit in Rechten und Pflichten, in der Arbeit und im Genuß bis zur
Grenze des Möglichen. Das Nationalgebiet soll in seinem idealen Staat als
gemeinschaftliches Besitzthum nach den Bestimmungen der Gesellschaft ver¬
waltet, von den Bürgern bebaut, und alle Erzeugnisse sollen von Beamten
der Gesellschaft eingesammelt, in Staatsmagazine gebracht und aus denselben
allen Angehörigen der großen Gesammtgemeinde nach gleichen Grundsätzen zu¬
getheilt werden. In derselben Weise will Cabet die gewerbliche Thätigkeit
nach ihren verschiedenen Zweigen als eine einzige sociale angesehen und einer
einheitlichen Leitung unterworfen wissen. Die Grundlagen dieser Gemeinschaft
soll eine allen jungen Bürgern in gleichem Maße zu ertheilende Erziehung
schaffen.

Cabet meint, daß dieses System eine höhere Entwicklung der schönen
Künste zulasse. Er ist übrigens, hierin von seinen meisten Vorgängern und
Nachfolgern wesentlich verschieden, ein durchaus friedlicher Prophet und Welt¬
verbesserer. Seine sociale Umgestaltung soll nur auf dem Wege der Beleh¬
rung und Ueberzeugung vor sich gehen, sich durch die Zustimmung Aller oder
doch der großen Mehrzahl vollziehen. Darum soll die gegenwärtige Generation
weder ihres Eigenthums beraubt, noch zur Arbeit gezwungen werden, indem


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[0108] großen Städte Frankreichs, vorzüglich über alle Fabrikorte, aus. Zuletzt ver¬ suchte Cabet mit einigen Hunderten seiner Jünger seine Lehre in die Wirk¬ lichkeit zu übertragen, indem er mit denselben nach dem Staat Illinois aus¬ wanderte, wo er sich in der von den Mormonen verlassenen Stadt Nauvoo niederließ. Selbstverständlich machte er, der ehrliche Phantast, auf dem Boden der reinpraktischen Weltanschauung hiermit kläglich Fiasco. Seine Lehre aber erhielt sich, von Schülern in einigen Punkten verändert, in den untern Klassen Frankreichs und gewann immer neue Anhänger unter denselben. Die Grundzüge dieser Lehre, von Cabet selbst in ein weitverbreitetes Glaubensbekenntniß zusammengefaßt, sind folgende: Es giebt einen wohl¬ thätigen Urgrund aller Dinge, dessen Wesen und Natur aber näher zu be¬ stimmen bei der Schwäche des menschlichen Erkenntnißvermögens nicht möglich ist. Die Ehe und das Familienleben sind die dem Verhältniß der Geschlechter zu einander und der Eltern zu den Kindern angemessensten Formen der per¬ sönlichen Gemeinschaft. Dagegen sind die politische und gesellschaftliche Un¬ gleichheit und insbesondre das Eigenthumsrecht und die Veräußerlichkeit des Besitzes die Quellen aller Laster der Reichen wie der Armen und die unselig¬ sten und heillosesten aller Irrthümer. Darum fordert Cabet, ohne in der monarchischen Staatsform die alleinige Ursache alles Unheils und Unfugs auf Erden zu erblicken, daß das „aristokratische System", d. h. die staatliche und gesellschaftliche Ungleichheit der Menschen, durch die Demokratie, d. h. die Gleichheit, ersetzt werde. Er verlangt als Ideal die Gütergemeinschaft, die Gleichheit in Rechten und Pflichten, in der Arbeit und im Genuß bis zur Grenze des Möglichen. Das Nationalgebiet soll in seinem idealen Staat als gemeinschaftliches Besitzthum nach den Bestimmungen der Gesellschaft ver¬ waltet, von den Bürgern bebaut, und alle Erzeugnisse sollen von Beamten der Gesellschaft eingesammelt, in Staatsmagazine gebracht und aus denselben allen Angehörigen der großen Gesammtgemeinde nach gleichen Grundsätzen zu¬ getheilt werden. In derselben Weise will Cabet die gewerbliche Thätigkeit nach ihren verschiedenen Zweigen als eine einzige sociale angesehen und einer einheitlichen Leitung unterworfen wissen. Die Grundlagen dieser Gemeinschaft soll eine allen jungen Bürgern in gleichem Maße zu ertheilende Erziehung schaffen. Cabet meint, daß dieses System eine höhere Entwicklung der schönen Künste zulasse. Er ist übrigens, hierin von seinen meisten Vorgängern und Nachfolgern wesentlich verschieden, ein durchaus friedlicher Prophet und Welt¬ verbesserer. Seine sociale Umgestaltung soll nur auf dem Wege der Beleh¬ rung und Ueberzeugung vor sich gehen, sich durch die Zustimmung Aller oder doch der großen Mehrzahl vollziehen. Darum soll die gegenwärtige Generation weder ihres Eigenthums beraubt, noch zur Arbeit gezwungen werden, indem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/108>, abgerufen am 24.07.2024.