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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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Ein beredtes Zeugniß für das warme Interesse, welches auch Goethe ein
dieser krankhaften Bildung des wirthschaftlichen Lebens genommen, spricht sich
in der Art und Weise aus, in welcher er diesen Gegenstand an vielen Stellen
in Wilhelm Meisters Lehrjahren berührt. Ueber den Kreis des
privatwirthschaftlichen Schaltens und Waltens, über die eng befriedigten
Grenzen der Häuslichkeit hinaus, erhebt sich Göthe zu den allgemeinen socia¬
len Interessen der Volkswirthschaft in einem großen und freien Sinne.

Der Edelmann, welchen Goethe zum Träger seiner Ideen über die agra¬
rischen Verhältnisse macht, hat durch die unmittelbare Anschauung amerikani¬
scher Zustände seinen Blick für die ungünstige Entwickelung des heimathlichen
Grundbesitzes geschärft, Amerika ist davon befreit gewesen, die bittre Schule
des Feudalismus durchmachen zu müssen. Die Ausbeutung fremder Arbeits¬
kraft nahm jenseit des Oceans eine andere Richtung, bis in gewaltsamen
Ausbruch die Emancipation der unterdrückten Classe auch dort den Sieg er¬
rang. Für Gebundenheit, für Unteilbarkeit des Grund und Bodens, für
Frohnden und Lasten, fehlten der amerikanischen Gesellschaft die historischen
Voraussetzungen.

Die Bekanntschaft mit diesen Zuständen läßt in Lothario den Wunsch
entstehen, zu einer Aufhebung des Druckes, welcher auf dem deutschen Bauer¬
stande lastete, wenigstens soweit seine Herrschaft reicht, mitzuwirken. "Ich
werde zurückkehren," find seine Worte "und in meinem Hause, in meinem
Baumgarten, mitten unter den Meinigen sagen, hier oder nirgends ist
Amerika "

Die Erkenntniß von der Ungerechtigkeit der bestehenden Lasten klingt in
den "Lehrjahren" an verschiedenen Stellen hindurch. Es ist besonders das
Exemtionswesen, die Steuerfreiheit der adligen Güter, welche als ein bedauerns¬
werther Mißstand empfunden wird. "Mir kommt kein Besitz ganz rechtmäßig
ganz rein vor, als der dem Staate seinen schuldigen Theil abträgt," äußert
Lothario zu Werner, der sich als Urbild des beschränkten Philisters mit den
Worten charakterisirt: "Ich kann Sie versichern, daß ich in meinem Leben
nie an den Staat gedacht habe; meine Abgaben, Zölle und Geleite habe ich
nur so bezahlt, weil es einmal so hergebracht ist." Es ist der Spießbürger
in seiner Werktagsstimmung, der dies offene Selbstbekenntniß ablegt. Noch
ist überwiegend die Werktagsstimmung die alte geblieben. Nimmt doch auch
uoch jetzt selten Jemand Anstoß daran, den Staat zu Übervortheilen,
sieht er doch den Staat als eine Erscheinung an, die ihm fremd gegenüber¬
steht. Für die lebendige Verbindung mit dem Staatswesen selbst, für eine
thätige Stellung innerhalb desselben ist in weiteren Kreisen der Sinn noch
immer sehr unentwickelt. Man darf sich darüber durch die momentane Er¬
regtheit des nationalen Aufschwunges nicht täuschen lassen; von der Opfer-


Ein beredtes Zeugniß für das warme Interesse, welches auch Goethe ein
dieser krankhaften Bildung des wirthschaftlichen Lebens genommen, spricht sich
in der Art und Weise aus, in welcher er diesen Gegenstand an vielen Stellen
in Wilhelm Meisters Lehrjahren berührt. Ueber den Kreis des
privatwirthschaftlichen Schaltens und Waltens, über die eng befriedigten
Grenzen der Häuslichkeit hinaus, erhebt sich Göthe zu den allgemeinen socia¬
len Interessen der Volkswirthschaft in einem großen und freien Sinne.

Der Edelmann, welchen Goethe zum Träger seiner Ideen über die agra¬
rischen Verhältnisse macht, hat durch die unmittelbare Anschauung amerikani¬
scher Zustände seinen Blick für die ungünstige Entwickelung des heimathlichen
Grundbesitzes geschärft, Amerika ist davon befreit gewesen, die bittre Schule
des Feudalismus durchmachen zu müssen. Die Ausbeutung fremder Arbeits¬
kraft nahm jenseit des Oceans eine andere Richtung, bis in gewaltsamen
Ausbruch die Emancipation der unterdrückten Classe auch dort den Sieg er¬
rang. Für Gebundenheit, für Unteilbarkeit des Grund und Bodens, für
Frohnden und Lasten, fehlten der amerikanischen Gesellschaft die historischen
Voraussetzungen.

Die Bekanntschaft mit diesen Zuständen läßt in Lothario den Wunsch
entstehen, zu einer Aufhebung des Druckes, welcher auf dem deutschen Bauer¬
stande lastete, wenigstens soweit seine Herrschaft reicht, mitzuwirken. „Ich
werde zurückkehren," find seine Worte „und in meinem Hause, in meinem
Baumgarten, mitten unter den Meinigen sagen, hier oder nirgends ist
Amerika "

Die Erkenntniß von der Ungerechtigkeit der bestehenden Lasten klingt in
den „Lehrjahren" an verschiedenen Stellen hindurch. Es ist besonders das
Exemtionswesen, die Steuerfreiheit der adligen Güter, welche als ein bedauerns¬
werther Mißstand empfunden wird. „Mir kommt kein Besitz ganz rechtmäßig
ganz rein vor, als der dem Staate seinen schuldigen Theil abträgt," äußert
Lothario zu Werner, der sich als Urbild des beschränkten Philisters mit den
Worten charakterisirt: „Ich kann Sie versichern, daß ich in meinem Leben
nie an den Staat gedacht habe; meine Abgaben, Zölle und Geleite habe ich
nur so bezahlt, weil es einmal so hergebracht ist." Es ist der Spießbürger
in seiner Werktagsstimmung, der dies offene Selbstbekenntniß ablegt. Noch
ist überwiegend die Werktagsstimmung die alte geblieben. Nimmt doch auch
uoch jetzt selten Jemand Anstoß daran, den Staat zu Übervortheilen,
sieht er doch den Staat als eine Erscheinung an, die ihm fremd gegenüber¬
steht. Für die lebendige Verbindung mit dem Staatswesen selbst, für eine
thätige Stellung innerhalb desselben ist in weiteren Kreisen der Sinn noch
immer sehr unentwickelt. Man darf sich darüber durch die momentane Er¬
regtheit des nationalen Aufschwunges nicht täuschen lassen; von der Opfer-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/100>, abgerufen am 24.07.2024.