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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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um Se. Simon eine Seete begeisterter Jünger sich sammeln, unter denen
einige, wie Michel Chevalier und Comte später eine hervorragende Stelle unter
den französischen Gelehrten und Nationalökonomen einnahmen, wurden ver¬
spottet und es verging noch manches Jahr, ehe man daran denken konnte,
die socialistischen Lehren zu pvpularisiren und als politisches Ag!talia>nsmittel
zu verwenden. Als erste Symptome einer furchtbaren Gährung in den Tie¬
fen der Gesellschaft verdienten sie schon damals eine bei weitem größere Auf¬
merksamkeit, als sie fanden. Man glaubte, daß die Paradoxie der socialisti¬
schen Lehren ihrer Verbreitung die stärksten Hindernisse in den Weg legen
würde, bedachte aber nicht, daß gerade die paradoxeste Lehre, wenn sie mit
mathematischer Schärfe aus den Vordersätzen abgeleitet ist, in Frankreich einen
unwiderstehlichen Einfluß ausübt. Nirgends herrscht weniger Originalität
und Unabhängigkeit des Denkens als in Frankreich; nirgends aber hat der
Einzelne in höherm Grade als dort das Bedürfniß, seinen Gedankenvorrath
um einen Mittelpunct zu concentriren, d. h. in ein fertiges System einzuord¬
nen. Als während der Julimonarchie die Schulen, die zur Zeit der Restau¬
ration sich um die philosophischen Systeme gesammelt hatten, zerfielen, waren
aus der wissenschaftlichen Doctrin bereits praktische Parteiprogramme hervor¬
gegangen, auf deren furchtbare Wirkung wir später einzugehen haben werden.

So hinterließ die Restauration der Folgezeit eine reiche Aussaat verkehr¬
ter Lehren und revolutionärer Grundsätze als Erbschaft, an deren Bekämpfung
Staat und Gesellschaft ihre Kräfte abnutzen sollten.




Hoetlje und die Lmcmcipation des HrundbMes.

Ein halbes Jahrhundert gesetzgeberischer Thätigkeit war erforderlich, um
die Gestaltung des Grundbesitzes mit den Geboten der Gerechtigkeit und der
Landescultur in Einklang zu bringen und bis in die neueste Zeit sehen wir
die Gesetzgebung stetig bemüht, die letzten Neste des Feudalwesens durch eine
gründliche Reform der gutsherrlich-bäuerlichen Verhältnisse zu beseitigen.
Wenn aber unserm Jahrhundert das hohe Verdienst einer energischen Durch¬
führung dieser reformatorischen Ideen gebührt, so dürfen wir doch nicht ver¬
kennen, daß der wissenschaftlichen Erkenntniß von der tiefen Ungerechtigkeit,
welche sich in der gedrückten Lage des Bauernstandes aussprach, bereits im
Zergangenen Jahrhundert kräftig vorgearbeitet war.


um Se. Simon eine Seete begeisterter Jünger sich sammeln, unter denen
einige, wie Michel Chevalier und Comte später eine hervorragende Stelle unter
den französischen Gelehrten und Nationalökonomen einnahmen, wurden ver¬
spottet und es verging noch manches Jahr, ehe man daran denken konnte,
die socialistischen Lehren zu pvpularisiren und als politisches Ag!talia>nsmittel
zu verwenden. Als erste Symptome einer furchtbaren Gährung in den Tie¬
fen der Gesellschaft verdienten sie schon damals eine bei weitem größere Auf¬
merksamkeit, als sie fanden. Man glaubte, daß die Paradoxie der socialisti¬
schen Lehren ihrer Verbreitung die stärksten Hindernisse in den Weg legen
würde, bedachte aber nicht, daß gerade die paradoxeste Lehre, wenn sie mit
mathematischer Schärfe aus den Vordersätzen abgeleitet ist, in Frankreich einen
unwiderstehlichen Einfluß ausübt. Nirgends herrscht weniger Originalität
und Unabhängigkeit des Denkens als in Frankreich; nirgends aber hat der
Einzelne in höherm Grade als dort das Bedürfniß, seinen Gedankenvorrath
um einen Mittelpunct zu concentriren, d. h. in ein fertiges System einzuord¬
nen. Als während der Julimonarchie die Schulen, die zur Zeit der Restau¬
ration sich um die philosophischen Systeme gesammelt hatten, zerfielen, waren
aus der wissenschaftlichen Doctrin bereits praktische Parteiprogramme hervor¬
gegangen, auf deren furchtbare Wirkung wir später einzugehen haben werden.

So hinterließ die Restauration der Folgezeit eine reiche Aussaat verkehr¬
ter Lehren und revolutionärer Grundsätze als Erbschaft, an deren Bekämpfung
Staat und Gesellschaft ihre Kräfte abnutzen sollten.




Hoetlje und die Lmcmcipation des HrundbMes.

Ein halbes Jahrhundert gesetzgeberischer Thätigkeit war erforderlich, um
die Gestaltung des Grundbesitzes mit den Geboten der Gerechtigkeit und der
Landescultur in Einklang zu bringen und bis in die neueste Zeit sehen wir
die Gesetzgebung stetig bemüht, die letzten Neste des Feudalwesens durch eine
gründliche Reform der gutsherrlich-bäuerlichen Verhältnisse zu beseitigen.
Wenn aber unserm Jahrhundert das hohe Verdienst einer energischen Durch¬
führung dieser reformatorischen Ideen gebührt, so dürfen wir doch nicht ver¬
kennen, daß der wissenschaftlichen Erkenntniß von der tiefen Ungerechtigkeit,
welche sich in der gedrückten Lage des Bauernstandes aussprach, bereits im
Zergangenen Jahrhundert kräftig vorgearbeitet war.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/99>, abgerufen am 24.07.2024.