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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band.

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taufbrunnen von etwas plumper Frührenaissance. der sich in der Mitte dessel¬
ben Kirchleins befindet, ist besonders interessant durch die energisch bewegte
nackte Gruppe Christi und des Täufers, in welcher auf irgend einen Loeal-
bildhauer ein Abglanz von Luca Signorelli's Stil gefallen zu sein scheint. --
Erwähnung verdient sodann die reiche, schöne schwarz-goldene Kassettendecke
dieses Oratoriums, um so mehr als Burkhardt nicht davon spricht.

Wir stiegen den steilen Berg, an dessen Abhang Cortona liegt, weiter
hinauf, beständig erfreut durch malerische Blicke auf zerfallene, grün be¬
wachsene Häuser, sorgende Weiber, hübsche Kinder und allerlei Hausthier,
endlich auf die herrliche freie Natur, das Thal und die umliegenden Berge.
Doch ward alles aufgewogen durch den Anblick, den wir bei der Kirche S. Niccolo,
unsrem nächsten Ziele, genossen. In dem reizenden Säulengang daneben
stand regungslos eine alte Frau mit dem Spinnrocken; ihr verwittertes, brau¬
nes Gesicht mit fein geschnittenen, fast schwärmerischen Zügen war von gold¬
braunem mit Weiß vermischten Locken eingerahmt, während um die Stirne
ein blaues Tuch mit gelben Streifen gewunden war und auf den Nacken
Hinabsiel. Ebenso stimmten die graue Jacke, die gelbe Schürze, der schwarze
Rock auf's Beste mit dem Uebngen. um uns eine höchst malerische Erschei¬
nung vorzuführen. Da wurde uns klar, woher Michelangelo seine Parzen
nahm! Die Wirkung dieser Gestalt wurde erhöht durch den verwilderten
Garten neben dem Säulengang, sowie durch eine alte, von Pflanzen über¬
wucherte Mauer mit einer morschen Holzthüre, zu der eine verfallene steinerne
Treppe führte. -- Indem wir uns so an der Natur, der Mutter und Lehr¬
meisterin aller ächten Kunst, wieder erfrischt hatten, traten wir in die Kirche
ein. Hier boten sich unsern Blicken wiederum zwei bedeutende Schöpfungen
Signorelli's dar. Zunächst an der linken Wand ein vor Kurzem erst von
der bedeckenden Tünche wieder befreites Frescobild einer Madonna auf dem
Thron, von mehreren männlichen und weiblichen Heiligen umgeben. So
energisch dieses Bild auch schon in den Bewegungen und im Gefühl erscheint,
so erinnert es durch manche bizarre oder asketische Form doch noch an den
Stil eines Leoticelli oder Pollajuolo, und stammt vermuthlich aus Signorelli's
Jugendzeit, da er ohne Zweifel den Einfluß jener Meister erfuhr. Ihm ver¬
wandt ist ein Madonnenbild Signorelli's in der Sakristei des Domes von
Perugia, über das ich später noch sprechen werde. -- Ein Meisterwerk des
Signorelli, wo ganz sein freier, gewaltig poetischer Geist wieder hervortritt,
ist aber das Altarbild, die Grablegung Christi, in etwa einem Drittel
Lebensgröße. Ein sehr schöner Engel, mit reichem Haar und erhobenen Flü¬
geln hält den im Tode erschlafften Christus, und läßt ihn in innigem Schmerze
auf einen Stein nieder, während drei andre Engel, worunter S. Michael,


taufbrunnen von etwas plumper Frührenaissance. der sich in der Mitte dessel¬
ben Kirchleins befindet, ist besonders interessant durch die energisch bewegte
nackte Gruppe Christi und des Täufers, in welcher auf irgend einen Loeal-
bildhauer ein Abglanz von Luca Signorelli's Stil gefallen zu sein scheint. —
Erwähnung verdient sodann die reiche, schöne schwarz-goldene Kassettendecke
dieses Oratoriums, um so mehr als Burkhardt nicht davon spricht.

Wir stiegen den steilen Berg, an dessen Abhang Cortona liegt, weiter
hinauf, beständig erfreut durch malerische Blicke auf zerfallene, grün be¬
wachsene Häuser, sorgende Weiber, hübsche Kinder und allerlei Hausthier,
endlich auf die herrliche freie Natur, das Thal und die umliegenden Berge.
Doch ward alles aufgewogen durch den Anblick, den wir bei der Kirche S. Niccolo,
unsrem nächsten Ziele, genossen. In dem reizenden Säulengang daneben
stand regungslos eine alte Frau mit dem Spinnrocken; ihr verwittertes, brau¬
nes Gesicht mit fein geschnittenen, fast schwärmerischen Zügen war von gold¬
braunem mit Weiß vermischten Locken eingerahmt, während um die Stirne
ein blaues Tuch mit gelben Streifen gewunden war und auf den Nacken
Hinabsiel. Ebenso stimmten die graue Jacke, die gelbe Schürze, der schwarze
Rock auf's Beste mit dem Uebngen. um uns eine höchst malerische Erschei¬
nung vorzuführen. Da wurde uns klar, woher Michelangelo seine Parzen
nahm! Die Wirkung dieser Gestalt wurde erhöht durch den verwilderten
Garten neben dem Säulengang, sowie durch eine alte, von Pflanzen über¬
wucherte Mauer mit einer morschen Holzthüre, zu der eine verfallene steinerne
Treppe führte. — Indem wir uns so an der Natur, der Mutter und Lehr¬
meisterin aller ächten Kunst, wieder erfrischt hatten, traten wir in die Kirche
ein. Hier boten sich unsern Blicken wiederum zwei bedeutende Schöpfungen
Signorelli's dar. Zunächst an der linken Wand ein vor Kurzem erst von
der bedeckenden Tünche wieder befreites Frescobild einer Madonna auf dem
Thron, von mehreren männlichen und weiblichen Heiligen umgeben. So
energisch dieses Bild auch schon in den Bewegungen und im Gefühl erscheint,
so erinnert es durch manche bizarre oder asketische Form doch noch an den
Stil eines Leoticelli oder Pollajuolo, und stammt vermuthlich aus Signorelli's
Jugendzeit, da er ohne Zweifel den Einfluß jener Meister erfuhr. Ihm ver¬
wandt ist ein Madonnenbild Signorelli's in der Sakristei des Domes von
Perugia, über das ich später noch sprechen werde. — Ein Meisterwerk des
Signorelli, wo ganz sein freier, gewaltig poetischer Geist wieder hervortritt,
ist aber das Altarbild, die Grablegung Christi, in etwa einem Drittel
Lebensgröße. Ein sehr schöner Engel, mit reichem Haar und erhobenen Flü¬
geln hält den im Tode erschlafften Christus, und läßt ihn in innigem Schmerze
auf einen Stein nieder, während drei andre Engel, worunter S. Michael,


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[0517] taufbrunnen von etwas plumper Frührenaissance. der sich in der Mitte dessel¬ ben Kirchleins befindet, ist besonders interessant durch die energisch bewegte nackte Gruppe Christi und des Täufers, in welcher auf irgend einen Loeal- bildhauer ein Abglanz von Luca Signorelli's Stil gefallen zu sein scheint. — Erwähnung verdient sodann die reiche, schöne schwarz-goldene Kassettendecke dieses Oratoriums, um so mehr als Burkhardt nicht davon spricht. Wir stiegen den steilen Berg, an dessen Abhang Cortona liegt, weiter hinauf, beständig erfreut durch malerische Blicke auf zerfallene, grün be¬ wachsene Häuser, sorgende Weiber, hübsche Kinder und allerlei Hausthier, endlich auf die herrliche freie Natur, das Thal und die umliegenden Berge. Doch ward alles aufgewogen durch den Anblick, den wir bei der Kirche S. Niccolo, unsrem nächsten Ziele, genossen. In dem reizenden Säulengang daneben stand regungslos eine alte Frau mit dem Spinnrocken; ihr verwittertes, brau¬ nes Gesicht mit fein geschnittenen, fast schwärmerischen Zügen war von gold¬ braunem mit Weiß vermischten Locken eingerahmt, während um die Stirne ein blaues Tuch mit gelben Streifen gewunden war und auf den Nacken Hinabsiel. Ebenso stimmten die graue Jacke, die gelbe Schürze, der schwarze Rock auf's Beste mit dem Uebngen. um uns eine höchst malerische Erschei¬ nung vorzuführen. Da wurde uns klar, woher Michelangelo seine Parzen nahm! Die Wirkung dieser Gestalt wurde erhöht durch den verwilderten Garten neben dem Säulengang, sowie durch eine alte, von Pflanzen über¬ wucherte Mauer mit einer morschen Holzthüre, zu der eine verfallene steinerne Treppe führte. — Indem wir uns so an der Natur, der Mutter und Lehr¬ meisterin aller ächten Kunst, wieder erfrischt hatten, traten wir in die Kirche ein. Hier boten sich unsern Blicken wiederum zwei bedeutende Schöpfungen Signorelli's dar. Zunächst an der linken Wand ein vor Kurzem erst von der bedeckenden Tünche wieder befreites Frescobild einer Madonna auf dem Thron, von mehreren männlichen und weiblichen Heiligen umgeben. So energisch dieses Bild auch schon in den Bewegungen und im Gefühl erscheint, so erinnert es durch manche bizarre oder asketische Form doch noch an den Stil eines Leoticelli oder Pollajuolo, und stammt vermuthlich aus Signorelli's Jugendzeit, da er ohne Zweifel den Einfluß jener Meister erfuhr. Ihm ver¬ wandt ist ein Madonnenbild Signorelli's in der Sakristei des Domes von Perugia, über das ich später noch sprechen werde. — Ein Meisterwerk des Signorelli, wo ganz sein freier, gewaltig poetischer Geist wieder hervortritt, ist aber das Altarbild, die Grablegung Christi, in etwa einem Drittel Lebensgröße. Ein sehr schöner Engel, mit reichem Haar und erhobenen Flü¬ geln hält den im Tode erschlafften Christus, und läßt ihn in innigem Schmerze auf einen Stein nieder, während drei andre Engel, worunter S. Michael,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125781/517>, abgerufen am 28.12.2024.