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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band.

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tigkeit zu bauen uns entschlossen, sondern nebenbei auch aus einer politischen
Speculation. Wir sahen nicht gerne, daß Oestreich mit der Brennerbahn und
Frankreich durch den Tunnel des Montcenis uns alle Waarentransporte nach
dem Süden Europas über unsre Grenzen lockte. Wir konnten noch weniger
ruhig die Chancen des Lukmanier in der Schweiz verhandeln hören. Denn
diese Bahn wäre von Anfang an unter das Belieben und die Willkühr der Habs¬
burgischen Politik und der in den östreichischen Vorlanden etwa gesammelten Heer¬
körper gestellt worden. Aber dennoch ist niemals ein opferwilligerer, ein
reinerer Vertrag zwischen drei Völkern geschlossen worden, so lange Menschen
Geschichte schreiben, und sich durch Brief und Siegel Treu und Glauben
geloben. Denn das Schöne an diesem Vertrage ist ja gerade, daß er die
politischen wie die wirthschaftlichen Interessen dreier achtbarer Cultur¬
völker, von der Südspitze Italiens an über die Alpen hin bis zu den
Fluthen des Beltes gleichzeitig und gleich berechtigt befriedigt. Das Edle an
dem Vertrage ist, daß jede der drei contrahirenden Nationen das Vermögen
von Generationen einsetzt, um ein Werk zu vollenden, das für eine Reihe von
Geschlechtern das höchste friedlicher menschlicher Arbeit sein wird -- auch dann
noch, wenn man vielleicht lange schon über die Pässe der Alpen mit der
Locomotive selbst steigt. Auch dann noch wird man von diesem Vertrage
sagen: "er war der erste, nichtpolitische Vertrag, bei welchem drei Nationen
ihr Vermögen zusammenschössen, um Werke des Friedens, der Humanität, der
freien Bewegung und des ungehemmten Verkehrs zu ermöglichen, eine "völker¬
verknüpfende Straße" im edelsten Sinne des Wortes zu erbauen, die des ein¬
zelnen Volkes Kraft weit überstiegen, von welcher erst kommende Geschlechter
die vollen Früchte genießen sollten. Keines der Völker gerieth in politische
Abhängigkeit durch die Betheiligung der andern an dem gemeinsamen Werke.
Denn die gemeinsame Sicherstellung und Freiheit vor dem Neide und über¬
mächtigen Einfluß der Nachbarn, die gemeinsame Ueberwindung der aller¬
größten Naturhindernisse war die Absicht dieses Vertrages. So ist er ein
Muster und Vorbild geworden der friedlichen Annäherung unter den Völkern,
der Verknüpfung aller berechtigten Interessen über Länder, Firnen 'und Meere,
die der modernen Zeit höchste Staatskunst sein muß."

So wird man dereinst urtheilen. Als der Vertrag zu Stande kam durch
die Bestätigung des Nordd. Reichstags am 26. Mai 1870, waren die lauten
Stimmen des Tages diesseit und jenseit der Alpen auf ganz andere Dinge
gerichtet, als auf die Gotthardbahn. Was war unserer deutschen Tages¬
presse damals die kleine Gotthardbahn gegenüber der heiligen Pflicht, die
blutigen Ketzer abzustrafen, die am 23. Mai für die Todesstrafe gestimmt
hatten, um das wichtigste Gesetz des Nordd. Bundes zu retten? Nichts-
Was war der Vertrag den Italienern in den Tagen des öcumeuischen Cor-


tigkeit zu bauen uns entschlossen, sondern nebenbei auch aus einer politischen
Speculation. Wir sahen nicht gerne, daß Oestreich mit der Brennerbahn und
Frankreich durch den Tunnel des Montcenis uns alle Waarentransporte nach
dem Süden Europas über unsre Grenzen lockte. Wir konnten noch weniger
ruhig die Chancen des Lukmanier in der Schweiz verhandeln hören. Denn
diese Bahn wäre von Anfang an unter das Belieben und die Willkühr der Habs¬
burgischen Politik und der in den östreichischen Vorlanden etwa gesammelten Heer¬
körper gestellt worden. Aber dennoch ist niemals ein opferwilligerer, ein
reinerer Vertrag zwischen drei Völkern geschlossen worden, so lange Menschen
Geschichte schreiben, und sich durch Brief und Siegel Treu und Glauben
geloben. Denn das Schöne an diesem Vertrage ist ja gerade, daß er die
politischen wie die wirthschaftlichen Interessen dreier achtbarer Cultur¬
völker, von der Südspitze Italiens an über die Alpen hin bis zu den
Fluthen des Beltes gleichzeitig und gleich berechtigt befriedigt. Das Edle an
dem Vertrage ist, daß jede der drei contrahirenden Nationen das Vermögen
von Generationen einsetzt, um ein Werk zu vollenden, das für eine Reihe von
Geschlechtern das höchste friedlicher menschlicher Arbeit sein wird — auch dann
noch, wenn man vielleicht lange schon über die Pässe der Alpen mit der
Locomotive selbst steigt. Auch dann noch wird man von diesem Vertrage
sagen: „er war der erste, nichtpolitische Vertrag, bei welchem drei Nationen
ihr Vermögen zusammenschössen, um Werke des Friedens, der Humanität, der
freien Bewegung und des ungehemmten Verkehrs zu ermöglichen, eine „völker¬
verknüpfende Straße" im edelsten Sinne des Wortes zu erbauen, die des ein¬
zelnen Volkes Kraft weit überstiegen, von welcher erst kommende Geschlechter
die vollen Früchte genießen sollten. Keines der Völker gerieth in politische
Abhängigkeit durch die Betheiligung der andern an dem gemeinsamen Werke.
Denn die gemeinsame Sicherstellung und Freiheit vor dem Neide und über¬
mächtigen Einfluß der Nachbarn, die gemeinsame Ueberwindung der aller¬
größten Naturhindernisse war die Absicht dieses Vertrages. So ist er ein
Muster und Vorbild geworden der friedlichen Annäherung unter den Völkern,
der Verknüpfung aller berechtigten Interessen über Länder, Firnen 'und Meere,
die der modernen Zeit höchste Staatskunst sein muß."

So wird man dereinst urtheilen. Als der Vertrag zu Stande kam durch
die Bestätigung des Nordd. Reichstags am 26. Mai 1870, waren die lauten
Stimmen des Tages diesseit und jenseit der Alpen auf ganz andere Dinge
gerichtet, als auf die Gotthardbahn. Was war unserer deutschen Tages¬
presse damals die kleine Gotthardbahn gegenüber der heiligen Pflicht, die
blutigen Ketzer abzustrafen, die am 23. Mai für die Todesstrafe gestimmt
hatten, um das wichtigste Gesetz des Nordd. Bundes zu retten? Nichts-
Was war der Vertrag den Italienern in den Tagen des öcumeuischen Cor-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125781/22>, abgerufen am 21.10.2024.