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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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zunehmen sein, daß es in der dortigen "Deutschen Kanzlei" liegen bleibt", --
von jener Zeit an bis zu dem Anfange des Endes aller wölfischen Dinge, wo
das "Mittelreich" durch einen leiblich blinden König regiert wird, welcher die
von seinem Vater gebrochene Verfassung aufs Neue bricht, um eine Kassen¬
trennung zu bewirken, welche die Finanzen des Hofes in nichtswürdiger Weise
auf Kosten des Landes verbessert vermittelst der berüchtigt gewordenen "Doma-
nialausscheidung" eines Königs, der allerlei seltsame Katechismus- und Gesang-
buchs-Experimente macht, und am Ende das Opfer einer Selbstüberhebung wird,
welche sich selbst zum Mittelpunkt der Welt setzt, ohne nur entfernt die Ent¬
schlossenheit zu haben, auch die nur allergewöhnlichsten Mittel vorzubereiten,
welche zur Erstrebung der gestellten Ziele erforderlich gewesen sein würden.

Das Jahr 1866 hat dem Königreich Hannover, dem Kurfürstenthum
Hessen und dem Herzogthum Nassau ein Ende gemacht. Sechzig Jahre vor¬
her (in der Zeit, mit der sich Band III des Oppermann'schen Romans beschäf¬
tigt), gingen die Kurfürstenthümer Hannover und Hessen unter (letzteres
hatte sich erst kürzlich aus einer Landgrafschaft in ein Kurfürstenthum ver¬
wandelt), und das Herzogthum Nassau auf. Die Fürsten von Nassau hatten
Napoleon I. die Schleppe getragen und wurden zum Dank für den Verrath
am deutschen Reich zusammengeschweißt zu einem neu gebackenen "Herzog¬
thum" das man vergrößerte und abrundete, auf Kosten anderer gleichberechtigter
Reichsfürsten, die man zur Strafe dafür, daß sie zu Kaiser und Reich gehal¬
ten, mediatifirte. Frankfurt am Main wurde damals zu einem "Groß-
herzogthum" unter dem Fürstbischof von Dalberg erhoben; und die stolzen
Republikaner der freien Reichsstadt beugten sich in Demuth vor ihrem neuen
Fürsten und dessen Oberherrn, dem Kaiser der Franzosen. Interessante Nach¬
richten darüber liefern uns die kürzlich publcirten Briefe des großen Geogra¬
phen Karl Ritter"). Die französische Kaiserin, Josephine von Frankreich,
kommt Ende 1806 nach Frankfurt und wird von den Bürgern mit Jubel
empfangen. Karl Ritter (Band I. S. 153) schreibt: "Ich bin erstaunt, mit
welcher Schnelligkeit sich unser Reichsbürgersinn in den französischen Hofton
umgewandelt hat; wie bald diejenigen, welche vorher alles mit Bitterkeit
durchhechelt hatten, was in Bezug auf diese Personen stand, nun alles über¬
aus liebenswürdig, geistreich, voll Anstand und Würde fanden. Jeder hatte
sich in den steifsten Gesellschaften vortrefflich amüsirt, wenn ihm nur ein
gnädiger Blick zugeworfen wurde. -- Der Bürgergeist entweicht immer mehr
aus unsern Mauern, welcher mir Achtung für eine große Klasse der Ein-



-) Karl Ritter, Ein Lebensbild, nach seinem handschriftlichen Nachlasse dargestellt von
G. Kramer, Director der Franke'schen Stiftungen zu Halle. Halle, Buchhandlung des Waisen¬
hauses. 8. Erster Theil mit Ritter's Bildniß, 1864. Zweiter Theil, 1870.

zunehmen sein, daß es in der dortigen „Deutschen Kanzlei" liegen bleibt", —
von jener Zeit an bis zu dem Anfange des Endes aller wölfischen Dinge, wo
das „Mittelreich" durch einen leiblich blinden König regiert wird, welcher die
von seinem Vater gebrochene Verfassung aufs Neue bricht, um eine Kassen¬
trennung zu bewirken, welche die Finanzen des Hofes in nichtswürdiger Weise
auf Kosten des Landes verbessert vermittelst der berüchtigt gewordenen „Doma-
nialausscheidung" eines Königs, der allerlei seltsame Katechismus- und Gesang-
buchs-Experimente macht, und am Ende das Opfer einer Selbstüberhebung wird,
welche sich selbst zum Mittelpunkt der Welt setzt, ohne nur entfernt die Ent¬
schlossenheit zu haben, auch die nur allergewöhnlichsten Mittel vorzubereiten,
welche zur Erstrebung der gestellten Ziele erforderlich gewesen sein würden.

Das Jahr 1866 hat dem Königreich Hannover, dem Kurfürstenthum
Hessen und dem Herzogthum Nassau ein Ende gemacht. Sechzig Jahre vor¬
her (in der Zeit, mit der sich Band III des Oppermann'schen Romans beschäf¬
tigt), gingen die Kurfürstenthümer Hannover und Hessen unter (letzteres
hatte sich erst kürzlich aus einer Landgrafschaft in ein Kurfürstenthum ver¬
wandelt), und das Herzogthum Nassau auf. Die Fürsten von Nassau hatten
Napoleon I. die Schleppe getragen und wurden zum Dank für den Verrath
am deutschen Reich zusammengeschweißt zu einem neu gebackenen „Herzog¬
thum" das man vergrößerte und abrundete, auf Kosten anderer gleichberechtigter
Reichsfürsten, die man zur Strafe dafür, daß sie zu Kaiser und Reich gehal¬
ten, mediatifirte. Frankfurt am Main wurde damals zu einem „Groß-
herzogthum" unter dem Fürstbischof von Dalberg erhoben; und die stolzen
Republikaner der freien Reichsstadt beugten sich in Demuth vor ihrem neuen
Fürsten und dessen Oberherrn, dem Kaiser der Franzosen. Interessante Nach¬
richten darüber liefern uns die kürzlich publcirten Briefe des großen Geogra¬
phen Karl Ritter"). Die französische Kaiserin, Josephine von Frankreich,
kommt Ende 1806 nach Frankfurt und wird von den Bürgern mit Jubel
empfangen. Karl Ritter (Band I. S. 153) schreibt: „Ich bin erstaunt, mit
welcher Schnelligkeit sich unser Reichsbürgersinn in den französischen Hofton
umgewandelt hat; wie bald diejenigen, welche vorher alles mit Bitterkeit
durchhechelt hatten, was in Bezug auf diese Personen stand, nun alles über¬
aus liebenswürdig, geistreich, voll Anstand und Würde fanden. Jeder hatte
sich in den steifsten Gesellschaften vortrefflich amüsirt, wenn ihm nur ein
gnädiger Blick zugeworfen wurde. — Der Bürgergeist entweicht immer mehr
aus unsern Mauern, welcher mir Achtung für eine große Klasse der Ein-



-) Karl Ritter, Ein Lebensbild, nach seinem handschriftlichen Nachlasse dargestellt von
G. Kramer, Director der Franke'schen Stiftungen zu Halle. Halle, Buchhandlung des Waisen¬
hauses. 8. Erster Theil mit Ritter's Bildniß, 1864. Zweiter Theil, 1870.
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[0095] zunehmen sein, daß es in der dortigen „Deutschen Kanzlei" liegen bleibt", — von jener Zeit an bis zu dem Anfange des Endes aller wölfischen Dinge, wo das „Mittelreich" durch einen leiblich blinden König regiert wird, welcher die von seinem Vater gebrochene Verfassung aufs Neue bricht, um eine Kassen¬ trennung zu bewirken, welche die Finanzen des Hofes in nichtswürdiger Weise auf Kosten des Landes verbessert vermittelst der berüchtigt gewordenen „Doma- nialausscheidung" eines Königs, der allerlei seltsame Katechismus- und Gesang- buchs-Experimente macht, und am Ende das Opfer einer Selbstüberhebung wird, welche sich selbst zum Mittelpunkt der Welt setzt, ohne nur entfernt die Ent¬ schlossenheit zu haben, auch die nur allergewöhnlichsten Mittel vorzubereiten, welche zur Erstrebung der gestellten Ziele erforderlich gewesen sein würden. Das Jahr 1866 hat dem Königreich Hannover, dem Kurfürstenthum Hessen und dem Herzogthum Nassau ein Ende gemacht. Sechzig Jahre vor¬ her (in der Zeit, mit der sich Band III des Oppermann'schen Romans beschäf¬ tigt), gingen die Kurfürstenthümer Hannover und Hessen unter (letzteres hatte sich erst kürzlich aus einer Landgrafschaft in ein Kurfürstenthum ver¬ wandelt), und das Herzogthum Nassau auf. Die Fürsten von Nassau hatten Napoleon I. die Schleppe getragen und wurden zum Dank für den Verrath am deutschen Reich zusammengeschweißt zu einem neu gebackenen „Herzog¬ thum" das man vergrößerte und abrundete, auf Kosten anderer gleichberechtigter Reichsfürsten, die man zur Strafe dafür, daß sie zu Kaiser und Reich gehal¬ ten, mediatifirte. Frankfurt am Main wurde damals zu einem „Groß- herzogthum" unter dem Fürstbischof von Dalberg erhoben; und die stolzen Republikaner der freien Reichsstadt beugten sich in Demuth vor ihrem neuen Fürsten und dessen Oberherrn, dem Kaiser der Franzosen. Interessante Nach¬ richten darüber liefern uns die kürzlich publcirten Briefe des großen Geogra¬ phen Karl Ritter"). Die französische Kaiserin, Josephine von Frankreich, kommt Ende 1806 nach Frankfurt und wird von den Bürgern mit Jubel empfangen. Karl Ritter (Band I. S. 153) schreibt: „Ich bin erstaunt, mit welcher Schnelligkeit sich unser Reichsbürgersinn in den französischen Hofton umgewandelt hat; wie bald diejenigen, welche vorher alles mit Bitterkeit durchhechelt hatten, was in Bezug auf diese Personen stand, nun alles über¬ aus liebenswürdig, geistreich, voll Anstand und Würde fanden. Jeder hatte sich in den steifsten Gesellschaften vortrefflich amüsirt, wenn ihm nur ein gnädiger Blick zugeworfen wurde. — Der Bürgergeist entweicht immer mehr aus unsern Mauern, welcher mir Achtung für eine große Klasse der Ein- -) Karl Ritter, Ein Lebensbild, nach seinem handschriftlichen Nachlasse dargestellt von G. Kramer, Director der Franke'schen Stiftungen zu Halle. Halle, Buchhandlung des Waisen¬ hauses. 8. Erster Theil mit Ritter's Bildniß, 1864. Zweiter Theil, 1870.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/95>, abgerufen am 28.09.2024.