Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

gewähren könnte, ein Ueberblick über den Antheil des Reichstags an der jetzi¬
gen Fassung des Gesetzes nur in flüchtigen Umrissen versucht werden. Am
leichtesten ist diese parlamentarische Arbeit vom criminalpolitischen und vom
rein politischen Standpunkte aus zu überblicken. In ersterer Hinsicht hat der
Reichstag bei einer großen Anzahl von Bergehen das Strafmaß des Ent¬
wurfs gemildert, die Annahme mildernder Umstände zugelassen, häufig die
Strafmaxima beseitigt, das höchste Maß der Einzelhaft ohne Einwilligung
des Gefangenen von sechs auf drei Jahre beschränkt, die Todesstrafen von
den vier Fällen des Entwurfs auf das Verbrechen des Mordes und des
Mordversuchs gegen das Neichsoberhauvt und den Landesfürsten reducier,
bei einer sehr großen Anzahl von Vergehen neben der entehrenden Zucht¬
hausstrafe^ Gefängniß zugelassen, endlich bei den meisten Paragraphen Fas¬
sungen gewählt, welche den Sinn des Entwurfs schärfer und klarer aus¬
drücken. An dieser -- wir möchten sagen wissenschaftlichen, humanen und
redactionellen Arbeit hatten alle Parteien des Parlaments einen nahezu gleich
großen Antheil; sie erfreuten sich dabei der Vorurtheilslosen Unterstützung der
Regierungsvertreter, namentlich des Präsidenten I)r. Friedberg. Nicht selten
sogar ist die Fassung des geschicktesten und annehmbarsten Verbesserungs¬
vorschlags vom Regierungstische ausgegangen. Die andere große Gruppe
von Veränderungen, welche der Reichstag beschloß, betraf die politischen Fra¬
gen, die in solcher Anzahl und Wichtigkeit noch in keinem der früheren nord¬
deutschen Gesetze sich zusammengedrängt hatten. Hier war der Kampf der
Parteien im Parlamente, und dieser gegen die Regierung, bei weitem härter
und schwieriger, als über die criminalpolitischen Verbesserungsanträge. Dafür
sind aber auch die auf diesem Gebiete erfochtenen Siege der liberalen Mittel¬
parteien gegen die Staatsdoctrin der äußersten Rechten, die Willkür der mili¬
tärischen Gewalten, die Vorurtheile der deutschen Bureaukratie von der größten
Tragweite. Gegen die Redefreiheit der Einzellandtage, die in einem der
ersten Paragraphen fast spielend in das Gesetz aufgenommen wurde, hatten noch
vor vier Jahren in Preußen die höchsten Regierungs- und Justizbehörden sich
in den leidenschaftlichsten Streit eingelassen, der je in der Conflictszeit ent¬
brannt war. Und als dann der preußische Ministerpräsident den alten Hader
über die Redefreiheit des Abgeordnetenhauses durch ein neues Specialgesetz
beilegen wollte, hatte das Herrenhaus in der unzweideutigsten Weise zu Be¬
ginn des Jahres 1869 sich dagegen aufgelehnt. , Hier, im Reichstag, ward
die Redefreiheit der Einzellandtage mit ungeheurer Mehrheit beschlossen. Ebenso
vergeblich hatte man bis dahin in Preußen und Sachsen, in Mecklenburg und
Hessen, kurz fast überall im Norddeutschen Bunde gestrebt, der bureaukratischen,
polizeilichen und militärischen Willkür die richtige Grenze zu ziehen. Hier, bei
den Strafbestimmungen über Widerstand und Widersetzlichkeit gegen die Or-


gewähren könnte, ein Ueberblick über den Antheil des Reichstags an der jetzi¬
gen Fassung des Gesetzes nur in flüchtigen Umrissen versucht werden. Am
leichtesten ist diese parlamentarische Arbeit vom criminalpolitischen und vom
rein politischen Standpunkte aus zu überblicken. In ersterer Hinsicht hat der
Reichstag bei einer großen Anzahl von Bergehen das Strafmaß des Ent¬
wurfs gemildert, die Annahme mildernder Umstände zugelassen, häufig die
Strafmaxima beseitigt, das höchste Maß der Einzelhaft ohne Einwilligung
des Gefangenen von sechs auf drei Jahre beschränkt, die Todesstrafen von
den vier Fällen des Entwurfs auf das Verbrechen des Mordes und des
Mordversuchs gegen das Neichsoberhauvt und den Landesfürsten reducier,
bei einer sehr großen Anzahl von Vergehen neben der entehrenden Zucht¬
hausstrafe^ Gefängniß zugelassen, endlich bei den meisten Paragraphen Fas¬
sungen gewählt, welche den Sinn des Entwurfs schärfer und klarer aus¬
drücken. An dieser — wir möchten sagen wissenschaftlichen, humanen und
redactionellen Arbeit hatten alle Parteien des Parlaments einen nahezu gleich
großen Antheil; sie erfreuten sich dabei der Vorurtheilslosen Unterstützung der
Regierungsvertreter, namentlich des Präsidenten I)r. Friedberg. Nicht selten
sogar ist die Fassung des geschicktesten und annehmbarsten Verbesserungs¬
vorschlags vom Regierungstische ausgegangen. Die andere große Gruppe
von Veränderungen, welche der Reichstag beschloß, betraf die politischen Fra¬
gen, die in solcher Anzahl und Wichtigkeit noch in keinem der früheren nord¬
deutschen Gesetze sich zusammengedrängt hatten. Hier war der Kampf der
Parteien im Parlamente, und dieser gegen die Regierung, bei weitem härter
und schwieriger, als über die criminalpolitischen Verbesserungsanträge. Dafür
sind aber auch die auf diesem Gebiete erfochtenen Siege der liberalen Mittel¬
parteien gegen die Staatsdoctrin der äußersten Rechten, die Willkür der mili¬
tärischen Gewalten, die Vorurtheile der deutschen Bureaukratie von der größten
Tragweite. Gegen die Redefreiheit der Einzellandtage, die in einem der
ersten Paragraphen fast spielend in das Gesetz aufgenommen wurde, hatten noch
vor vier Jahren in Preußen die höchsten Regierungs- und Justizbehörden sich
in den leidenschaftlichsten Streit eingelassen, der je in der Conflictszeit ent¬
brannt war. Und als dann der preußische Ministerpräsident den alten Hader
über die Redefreiheit des Abgeordnetenhauses durch ein neues Specialgesetz
beilegen wollte, hatte das Herrenhaus in der unzweideutigsten Weise zu Be¬
ginn des Jahres 1869 sich dagegen aufgelehnt. , Hier, im Reichstag, ward
die Redefreiheit der Einzellandtage mit ungeheurer Mehrheit beschlossen. Ebenso
vergeblich hatte man bis dahin in Preußen und Sachsen, in Mecklenburg und
Hessen, kurz fast überall im Norddeutschen Bunde gestrebt, der bureaukratischen,
polizeilichen und militärischen Willkür die richtige Grenze zu ziehen. Hier, bei
den Strafbestimmungen über Widerstand und Widersetzlichkeit gegen die Or-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0092" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/125336"/>
          <p xml:id="ID_342" prev="#ID_341" next="#ID_343"> gewähren könnte, ein Ueberblick über den Antheil des Reichstags an der jetzi¬<lb/>
gen Fassung des Gesetzes nur in flüchtigen Umrissen versucht werden. Am<lb/>
leichtesten ist diese parlamentarische Arbeit vom criminalpolitischen und vom<lb/>
rein politischen Standpunkte aus zu überblicken. In ersterer Hinsicht hat der<lb/>
Reichstag bei einer großen Anzahl von Bergehen das Strafmaß des Ent¬<lb/>
wurfs gemildert, die Annahme mildernder Umstände zugelassen, häufig die<lb/>
Strafmaxima beseitigt, das höchste Maß der Einzelhaft ohne Einwilligung<lb/>
des Gefangenen von sechs auf drei Jahre beschränkt, die Todesstrafen von<lb/>
den vier Fällen des Entwurfs auf das Verbrechen des Mordes und des<lb/>
Mordversuchs gegen das Neichsoberhauvt und den Landesfürsten reducier,<lb/>
bei einer sehr großen Anzahl von Vergehen neben der entehrenden Zucht¬<lb/>
hausstrafe^ Gefängniß zugelassen, endlich bei den meisten Paragraphen Fas¬<lb/>
sungen gewählt, welche den Sinn des Entwurfs schärfer und klarer aus¬<lb/>
drücken. An dieser &#x2014; wir möchten sagen wissenschaftlichen, humanen und<lb/>
redactionellen Arbeit hatten alle Parteien des Parlaments einen nahezu gleich<lb/>
großen Antheil; sie erfreuten sich dabei der Vorurtheilslosen Unterstützung der<lb/>
Regierungsvertreter, namentlich des Präsidenten I)r. Friedberg. Nicht selten<lb/>
sogar ist die Fassung des geschicktesten und annehmbarsten Verbesserungs¬<lb/>
vorschlags vom Regierungstische ausgegangen. Die andere große Gruppe<lb/>
von Veränderungen, welche der Reichstag beschloß, betraf die politischen Fra¬<lb/>
gen, die in solcher Anzahl und Wichtigkeit noch in keinem der früheren nord¬<lb/>
deutschen Gesetze sich zusammengedrängt hatten. Hier war der Kampf der<lb/>
Parteien im Parlamente, und dieser gegen die Regierung, bei weitem härter<lb/>
und schwieriger, als über die criminalpolitischen Verbesserungsanträge. Dafür<lb/>
sind aber auch die auf diesem Gebiete erfochtenen Siege der liberalen Mittel¬<lb/>
parteien gegen die Staatsdoctrin der äußersten Rechten, die Willkür der mili¬<lb/>
tärischen Gewalten, die Vorurtheile der deutschen Bureaukratie von der größten<lb/>
Tragweite. Gegen die Redefreiheit der Einzellandtage, die in einem der<lb/>
ersten Paragraphen fast spielend in das Gesetz aufgenommen wurde, hatten noch<lb/>
vor vier Jahren in Preußen die höchsten Regierungs- und Justizbehörden sich<lb/>
in den leidenschaftlichsten Streit eingelassen, der je in der Conflictszeit ent¬<lb/>
brannt war. Und als dann der preußische Ministerpräsident den alten Hader<lb/>
über die Redefreiheit des Abgeordnetenhauses durch ein neues Specialgesetz<lb/>
beilegen wollte, hatte das Herrenhaus in der unzweideutigsten Weise zu Be¬<lb/>
ginn des Jahres 1869 sich dagegen aufgelehnt. , Hier, im Reichstag, ward<lb/>
die Redefreiheit der Einzellandtage mit ungeheurer Mehrheit beschlossen. Ebenso<lb/>
vergeblich hatte man bis dahin in Preußen und Sachsen, in Mecklenburg und<lb/>
Hessen, kurz fast überall im Norddeutschen Bunde gestrebt, der bureaukratischen,<lb/>
polizeilichen und militärischen Willkür die richtige Grenze zu ziehen. Hier, bei<lb/>
den Strafbestimmungen über Widerstand und Widersetzlichkeit gegen die Or-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0092] gewähren könnte, ein Ueberblick über den Antheil des Reichstags an der jetzi¬ gen Fassung des Gesetzes nur in flüchtigen Umrissen versucht werden. Am leichtesten ist diese parlamentarische Arbeit vom criminalpolitischen und vom rein politischen Standpunkte aus zu überblicken. In ersterer Hinsicht hat der Reichstag bei einer großen Anzahl von Bergehen das Strafmaß des Ent¬ wurfs gemildert, die Annahme mildernder Umstände zugelassen, häufig die Strafmaxima beseitigt, das höchste Maß der Einzelhaft ohne Einwilligung des Gefangenen von sechs auf drei Jahre beschränkt, die Todesstrafen von den vier Fällen des Entwurfs auf das Verbrechen des Mordes und des Mordversuchs gegen das Neichsoberhauvt und den Landesfürsten reducier, bei einer sehr großen Anzahl von Vergehen neben der entehrenden Zucht¬ hausstrafe^ Gefängniß zugelassen, endlich bei den meisten Paragraphen Fas¬ sungen gewählt, welche den Sinn des Entwurfs schärfer und klarer aus¬ drücken. An dieser — wir möchten sagen wissenschaftlichen, humanen und redactionellen Arbeit hatten alle Parteien des Parlaments einen nahezu gleich großen Antheil; sie erfreuten sich dabei der Vorurtheilslosen Unterstützung der Regierungsvertreter, namentlich des Präsidenten I)r. Friedberg. Nicht selten sogar ist die Fassung des geschicktesten und annehmbarsten Verbesserungs¬ vorschlags vom Regierungstische ausgegangen. Die andere große Gruppe von Veränderungen, welche der Reichstag beschloß, betraf die politischen Fra¬ gen, die in solcher Anzahl und Wichtigkeit noch in keinem der früheren nord¬ deutschen Gesetze sich zusammengedrängt hatten. Hier war der Kampf der Parteien im Parlamente, und dieser gegen die Regierung, bei weitem härter und schwieriger, als über die criminalpolitischen Verbesserungsanträge. Dafür sind aber auch die auf diesem Gebiete erfochtenen Siege der liberalen Mittel¬ parteien gegen die Staatsdoctrin der äußersten Rechten, die Willkür der mili¬ tärischen Gewalten, die Vorurtheile der deutschen Bureaukratie von der größten Tragweite. Gegen die Redefreiheit der Einzellandtage, die in einem der ersten Paragraphen fast spielend in das Gesetz aufgenommen wurde, hatten noch vor vier Jahren in Preußen die höchsten Regierungs- und Justizbehörden sich in den leidenschaftlichsten Streit eingelassen, der je in der Conflictszeit ent¬ brannt war. Und als dann der preußische Ministerpräsident den alten Hader über die Redefreiheit des Abgeordnetenhauses durch ein neues Specialgesetz beilegen wollte, hatte das Herrenhaus in der unzweideutigsten Weise zu Be¬ ginn des Jahres 1869 sich dagegen aufgelehnt. , Hier, im Reichstag, ward die Redefreiheit der Einzellandtage mit ungeheurer Mehrheit beschlossen. Ebenso vergeblich hatte man bis dahin in Preußen und Sachsen, in Mecklenburg und Hessen, kurz fast überall im Norddeutschen Bunde gestrebt, der bureaukratischen, polizeilichen und militärischen Willkür die richtige Grenze zu ziehen. Hier, bei den Strafbestimmungen über Widerstand und Widersetzlichkeit gegen die Or-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/92
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/92>, abgerufen am 28.09.2024.