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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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Anordnung und Ausführung des Stoffes manches zu tadeln fanden, erklären
den Fortschritt, den das Gesetz in der Rechtseinheit begründet, zu wichtig,
als daß sie es hätten scheitern lassen können, wenn sie über dasselbe abzu¬
stimmen berufen gewesen wären. Das ist keine gelehrte Liebhaberei etwa,
noch weniger eine Phrase. Die Wahrheit vielmehr ist, daß auch die
Carolina niemals eine völlige Rechtseinheit in Deutschland zu Wege gebracht
hat, daß neben des heil. Rom. Reichs Halsgerichtsordnung immer noch das
jeweilige Particularrecht Geltung und Ansehen besaß, und über Freiheit,
Ehre und Leben der Deutschen so kraus und mannigfaltig judicirt wurde,
wie zuvor. Solange die deutsche Wissenschaft überall in Deutschland durch
die Urtel der Facultäten selbst Einfluß hatte auf die Anwendung des Reichs¬
strafrechts und diesen hohen Einfluß gebrauchte im Sinne einer menschlichen
Anwendung oder Nichtanwendung der harten Strafen und Rechtsbegriffe der
Carolina, mochte der Zustand leidlich befunden werden. Aber seitdem jeder
größere Particularstaat in Deutschland sich je nach seiner Artung und nach
der Zeit der Entstehung ein besonderes Strafgesetzbuch gegeben hatte, war die
Ungleichheit der Deutschen vor dem Gesetz in Strafsachen um so peinlicher,
je lebhafter das Nationalgefühl bei uns erstarkte. Und als die norddeutsche
Bundesverfassung ins Leben trat, ward Strafrecht und Strafproceß zur
Bundessache erklärt; einer der ersten und wichtigsten Zusatzanträge, den die
nationalen zu §. 4 der Verfassung im constituirenden Reichstage durchsetzten.

Vornehmlich der rastlosen Arbeit der Männer, die nach Berlin berufen
wurden, um den Entwurf eines Norddeutschen Straßgesetzbuchs auszuarbeiten,
verdanken wir, daß schon im Frühjahr 1870 die Gesetzesvorlage dem
Reichstage zugehen konnte. Immerhin mögen die internationalen Dema¬
gogen nach dem unmuthigen Wort Heinrich Heine's nun spotten über das
"Nationalzuchthaus" und die "gemeinsame Peitsche", wenn sie von der neuen
Strafrechtseinheit der Deutschen reden. Das Gesetz selbst spricht ja wider
sie. Die "Zuchthausstrafe" des neuen deutschen Strafrechts, obwohl sie nur
bei Verbrechen erkannt wird, die einer ehrlosen Gesinnung entspringen, ist
doch wesentlich milder, als das Zuchthaus von Heine's Tagen; der Verlust
der bürgerlichen Ehrenrechte nämlich auch bei dem gemeinsten Verbrechen nur
auf Zeit zulässig. Und die "gemeinsame Peitsche", wenn sie jemals in
Deutschland existirt hätte, gehört fortan dem Gebiete der mecklenburgischen
Sage an.

Ueberhaupt steht das Strafgesetz des neuen Reichs außerordentlich hoch
über jedem der bisherigen Particularrechte in Nord und Süd. Allgemein
nämlich war anerkannt, daß das preußische Strafgesetzbuch von 1851 von
keinem andern in Deutschland übertroffen sei, sowohl in wissenschaftlicher, als
n eriminalpolitischer Hinsicht. Nun überragt aber schon der Entwurf, den


Anordnung und Ausführung des Stoffes manches zu tadeln fanden, erklären
den Fortschritt, den das Gesetz in der Rechtseinheit begründet, zu wichtig,
als daß sie es hätten scheitern lassen können, wenn sie über dasselbe abzu¬
stimmen berufen gewesen wären. Das ist keine gelehrte Liebhaberei etwa,
noch weniger eine Phrase. Die Wahrheit vielmehr ist, daß auch die
Carolina niemals eine völlige Rechtseinheit in Deutschland zu Wege gebracht
hat, daß neben des heil. Rom. Reichs Halsgerichtsordnung immer noch das
jeweilige Particularrecht Geltung und Ansehen besaß, und über Freiheit,
Ehre und Leben der Deutschen so kraus und mannigfaltig judicirt wurde,
wie zuvor. Solange die deutsche Wissenschaft überall in Deutschland durch
die Urtel der Facultäten selbst Einfluß hatte auf die Anwendung des Reichs¬
strafrechts und diesen hohen Einfluß gebrauchte im Sinne einer menschlichen
Anwendung oder Nichtanwendung der harten Strafen und Rechtsbegriffe der
Carolina, mochte der Zustand leidlich befunden werden. Aber seitdem jeder
größere Particularstaat in Deutschland sich je nach seiner Artung und nach
der Zeit der Entstehung ein besonderes Strafgesetzbuch gegeben hatte, war die
Ungleichheit der Deutschen vor dem Gesetz in Strafsachen um so peinlicher,
je lebhafter das Nationalgefühl bei uns erstarkte. Und als die norddeutsche
Bundesverfassung ins Leben trat, ward Strafrecht und Strafproceß zur
Bundessache erklärt; einer der ersten und wichtigsten Zusatzanträge, den die
nationalen zu §. 4 der Verfassung im constituirenden Reichstage durchsetzten.

Vornehmlich der rastlosen Arbeit der Männer, die nach Berlin berufen
wurden, um den Entwurf eines Norddeutschen Straßgesetzbuchs auszuarbeiten,
verdanken wir, daß schon im Frühjahr 1870 die Gesetzesvorlage dem
Reichstage zugehen konnte. Immerhin mögen die internationalen Dema¬
gogen nach dem unmuthigen Wort Heinrich Heine's nun spotten über das
„Nationalzuchthaus" und die „gemeinsame Peitsche", wenn sie von der neuen
Strafrechtseinheit der Deutschen reden. Das Gesetz selbst spricht ja wider
sie. Die „Zuchthausstrafe" des neuen deutschen Strafrechts, obwohl sie nur
bei Verbrechen erkannt wird, die einer ehrlosen Gesinnung entspringen, ist
doch wesentlich milder, als das Zuchthaus von Heine's Tagen; der Verlust
der bürgerlichen Ehrenrechte nämlich auch bei dem gemeinsten Verbrechen nur
auf Zeit zulässig. Und die „gemeinsame Peitsche", wenn sie jemals in
Deutschland existirt hätte, gehört fortan dem Gebiete der mecklenburgischen
Sage an.

Ueberhaupt steht das Strafgesetz des neuen Reichs außerordentlich hoch
über jedem der bisherigen Particularrechte in Nord und Süd. Allgemein
nämlich war anerkannt, daß das preußische Strafgesetzbuch von 1851 von
keinem andern in Deutschland übertroffen sei, sowohl in wissenschaftlicher, als
n eriminalpolitischer Hinsicht. Nun überragt aber schon der Entwurf, den


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/90>, abgerufen am 28.09.2024.