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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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überhaupt den Uebelstand anerkennen will. So lange die^öffentlichen Berichte
über unsere Schulen dem Volke nur den Begriff ihrer Vortrefflichkeit predigen,
wird es wohl nicht anders werden.

Selbstredend ist, daß unsere Schule in einem engen Verhältniß zu unserer
wirthschaftlichen und industriellen Entwicklung steht. Die niedere Bevölkerung
der Städte sowohl, als die ländlichen Arbeiter, sind so verkommen, wie in
wenigen andern Gegenden. Guter Unterricht ist bei der geringen geistigen
Lebhaftigkeit der Holländer doppelt nöthig. Bei kärglichem Lohne und schlech¬
ter Nahrung ist unsere Arbeiterklasse physisch und geistig schwach; sie kämpft
für eine armselige Existenz und hat Muth und Fähigkeit zu intellectueller
Beschäftigung verloren. Die Industrie klagt über wenig verwendbare Arbeits¬
kräfte, während sie der freien Concurrenz von außen die Spitze bieten muß
und die meisten Abzugswege durch hohe Eingangszölle bei unsern Nachbarn
versperrt sind. Zu einem gedeihlichen Wachsthum kann sie nicht kommen,
während der Handel durch unser verderbliches Colonialsystem demoralisirt ist.

Bei diesem Mangel an gehörigen Eristenzmitteln für die untern Klassen
muß die Mildthätigkeit helfen, die denn auch wohl nirgends in der Welt
so großartig ist, als bei uns. Und dennoch ist, bei dem großen Lob, wel¬
sches man den Holländern wegen ihrer Wohlthätigkeit spenden muß, dieser
eine große Schattenseite nicht abzusprechen. Sie lähmt die Energie noch mehr
und macht den thätigen Arbeiter langsam zum Proletarier. Die Armenpflege
ist bei uns eine Lebensfrage, deren Lösung große Schwierigkeiten bietet. .Wäre
Handel und Wandel lebhafter und gesunder, dann könnte man den Pauperismus
mit Erfolg bekämpfen. Die niedere Klasse stemmt sich zum Theil gegen jede
Entwicklung; sie sagt: Was hilft uns eine höhere Bildung, wir bekommen
dadurch nicht mehr Arbeit und keinen besseren Lohn: weshalb sollen wir uns
denn die Mühe geben, etwas zu lernen? Kann man nun auch einer solchen
Anschauungsweise nicht beipflichten, so bleibt allerdings wahr, daß Mangel
an lohnender Arbeit das Haupthinderniß bei der Entwicklung unserer Arbeiter¬
bevölkerung bildet.

Nach zehnjähriger Arbeit hat eine von der Regierung ernannte Com¬
mission einen Rapport über ihre Untersuchungen über den Zustand der in
Fabriken arbeitenden Kinder zu Stande gebracht. Nach hiesiger Gewohnheit
hat diese Enquete ungebührlich lange gedauert, aber sie hat genügend den
traurigen Zustand dieser Kinder nicht allein, sondern der Fabrikarbeiter und
Landbevölkerung bewiesen. Der Zweck aber der Untersuchung, das Wün¬
schenswerte, um auch hier, wie in England, eine 5g.etvr7-s.et zu erlassen, ist
indessen wieder bei Seite geschoben; man hat es wieder beim Alten gelassen,
man hat sich nicht zum Handeln entschließen können. Man entschuldigt seine
Lässigkeit damit, daß eine kaetvr/- oder VsorKillZ-enilÄeru-act die persönlich


überhaupt den Uebelstand anerkennen will. So lange die^öffentlichen Berichte
über unsere Schulen dem Volke nur den Begriff ihrer Vortrefflichkeit predigen,
wird es wohl nicht anders werden.

Selbstredend ist, daß unsere Schule in einem engen Verhältniß zu unserer
wirthschaftlichen und industriellen Entwicklung steht. Die niedere Bevölkerung
der Städte sowohl, als die ländlichen Arbeiter, sind so verkommen, wie in
wenigen andern Gegenden. Guter Unterricht ist bei der geringen geistigen
Lebhaftigkeit der Holländer doppelt nöthig. Bei kärglichem Lohne und schlech¬
ter Nahrung ist unsere Arbeiterklasse physisch und geistig schwach; sie kämpft
für eine armselige Existenz und hat Muth und Fähigkeit zu intellectueller
Beschäftigung verloren. Die Industrie klagt über wenig verwendbare Arbeits¬
kräfte, während sie der freien Concurrenz von außen die Spitze bieten muß
und die meisten Abzugswege durch hohe Eingangszölle bei unsern Nachbarn
versperrt sind. Zu einem gedeihlichen Wachsthum kann sie nicht kommen,
während der Handel durch unser verderbliches Colonialsystem demoralisirt ist.

Bei diesem Mangel an gehörigen Eristenzmitteln für die untern Klassen
muß die Mildthätigkeit helfen, die denn auch wohl nirgends in der Welt
so großartig ist, als bei uns. Und dennoch ist, bei dem großen Lob, wel¬
sches man den Holländern wegen ihrer Wohlthätigkeit spenden muß, dieser
eine große Schattenseite nicht abzusprechen. Sie lähmt die Energie noch mehr
und macht den thätigen Arbeiter langsam zum Proletarier. Die Armenpflege
ist bei uns eine Lebensfrage, deren Lösung große Schwierigkeiten bietet. .Wäre
Handel und Wandel lebhafter und gesunder, dann könnte man den Pauperismus
mit Erfolg bekämpfen. Die niedere Klasse stemmt sich zum Theil gegen jede
Entwicklung; sie sagt: Was hilft uns eine höhere Bildung, wir bekommen
dadurch nicht mehr Arbeit und keinen besseren Lohn: weshalb sollen wir uns
denn die Mühe geben, etwas zu lernen? Kann man nun auch einer solchen
Anschauungsweise nicht beipflichten, so bleibt allerdings wahr, daß Mangel
an lohnender Arbeit das Haupthinderniß bei der Entwicklung unserer Arbeiter¬
bevölkerung bildet.

Nach zehnjähriger Arbeit hat eine von der Regierung ernannte Com¬
mission einen Rapport über ihre Untersuchungen über den Zustand der in
Fabriken arbeitenden Kinder zu Stande gebracht. Nach hiesiger Gewohnheit
hat diese Enquete ungebührlich lange gedauert, aber sie hat genügend den
traurigen Zustand dieser Kinder nicht allein, sondern der Fabrikarbeiter und
Landbevölkerung bewiesen. Der Zweck aber der Untersuchung, das Wün¬
schenswerte, um auch hier, wie in England, eine 5g.etvr7-s.et zu erlassen, ist
indessen wieder bei Seite geschoben; man hat es wieder beim Alten gelassen,
man hat sich nicht zum Handeln entschließen können. Man entschuldigt seine
Lässigkeit damit, daß eine kaetvr/- oder VsorKillZ-enilÄeru-act die persönlich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/72>, abgerufen am 28.09.2024.