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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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Freiheit beeinträchtigte: So dient unsere Freiheit zur Abwehr jeder
Verbesserung.

Aber es wäre Unrecht, unsere wirthschaftliche Schwäche allein der arbei¬
tenden Klasse zur Schuld zu legen; auch bei der besitzenden Klasse findet man
gleichartige Erscheinungen. In derselben herrscht noch viel Abneigung gegen
guten, zeitgemäßen Unterricht. Der Handel bleibt in seinem alten Gange
und sucht keine neuen Abnehmer. Unsere Verbindungen mit Amerika,
Australien, China sind fast Null, und was noch von unsern Erzeugnissen
nach diesen Ländern ausgeführt wird, geschieht größtentheils für deutsche
Rechnung. Dagegen speculirt man lieber an der Börse und legt seine Capi¬
talien in. fremden Staatspapieren an.

Daß die Holländer von ihrem Zustand keinen klaren Begriff haben oder
haben wollen, zeigt sich daraus, daß alljährlich in der Thronrede dem Volke
unser Fortschritt verkündet wird, und daß Alles bei uns xour Is Msux äa.us
1o mÄIlöur ach morales ist. Man fürchtet sich, der Wahrheit ins Gesicht zu
sehen und glaubt lieber der officiellen Lüge, als den Ergebnissen eigener An¬
schauung.

Nur Landbau und Viehzucht blühen durch den Export nach England.
Der angesessene Bauer ist in letzter Zeit zu großem Wohlstand gelangt und
der Preis der Ländereien steigt fortwährend. Der englische Arbeiter .nährt
sich vom Vieh unserer Weiden, während unsere Arbeiter höchstens die Schlacht¬
abfälle, die von drüben wieder hierhergebracht werden, zu verzehren bekom¬
men. Vor einigen Jahren rühmte ein officieller Rapport die vermehrte Ein¬
fuhr solcher Abfälle als einen Fortschritt. Solcher Ergebnisse muß man sich
noch freuen! --

Sind wir nun in politischer und wirthschaftlicher Beziehung seit frühern
Jahrhunderten stark zurückgegangen, so sind die geistigen Fähigkeiten der
Nordniederländer in Betreff literarischer Erzeugnisse zu keiner Zeit glänzend
gewesen. Mit der Zeit, wo eine eigentliche holländische Literatur beginnt,
tritt auch eine Masseneinwanderung protestantischer Flüchtlinge ein, welche
Kunstsinn, Gewerbfleiß und feinere Sitten einführten. Unsere ganze Literatur
ist Uebersetzung und Nachbildung fremder Vorbilder. Nur einzelne wenige
Schriften sind echt nationale Erzeugnisse, die dem poesielosen, praktischen und
theilweise rohen Volkscharakter entsprungen sind. Eine eigentliche Volks¬
literatur besteht nicht. Die bombastische Poesie Bilderdyk's, des bedeutendsten
unserer Schriftsteller der letzten Zeit, ist nur den Gelehrten bekannt. Die
Schaubühne ist im tiefsten Verfall und eine Literatur für dieselbe besteht
gegenwärtig nicht.

Wie unsere literarischen Erzeugnisse wenig Charakteristisches bieten --
will man nicht eine gewisse Breite dafür ansehen -- so verliert auch unsr


Grenzbottli I. >87I- 9

Freiheit beeinträchtigte: So dient unsere Freiheit zur Abwehr jeder
Verbesserung.

Aber es wäre Unrecht, unsere wirthschaftliche Schwäche allein der arbei¬
tenden Klasse zur Schuld zu legen; auch bei der besitzenden Klasse findet man
gleichartige Erscheinungen. In derselben herrscht noch viel Abneigung gegen
guten, zeitgemäßen Unterricht. Der Handel bleibt in seinem alten Gange
und sucht keine neuen Abnehmer. Unsere Verbindungen mit Amerika,
Australien, China sind fast Null, und was noch von unsern Erzeugnissen
nach diesen Ländern ausgeführt wird, geschieht größtentheils für deutsche
Rechnung. Dagegen speculirt man lieber an der Börse und legt seine Capi¬
talien in. fremden Staatspapieren an.

Daß die Holländer von ihrem Zustand keinen klaren Begriff haben oder
haben wollen, zeigt sich daraus, daß alljährlich in der Thronrede dem Volke
unser Fortschritt verkündet wird, und daß Alles bei uns xour Is Msux äa.us
1o mÄIlöur ach morales ist. Man fürchtet sich, der Wahrheit ins Gesicht zu
sehen und glaubt lieber der officiellen Lüge, als den Ergebnissen eigener An¬
schauung.

Nur Landbau und Viehzucht blühen durch den Export nach England.
Der angesessene Bauer ist in letzter Zeit zu großem Wohlstand gelangt und
der Preis der Ländereien steigt fortwährend. Der englische Arbeiter .nährt
sich vom Vieh unserer Weiden, während unsere Arbeiter höchstens die Schlacht¬
abfälle, die von drüben wieder hierhergebracht werden, zu verzehren bekom¬
men. Vor einigen Jahren rühmte ein officieller Rapport die vermehrte Ein¬
fuhr solcher Abfälle als einen Fortschritt. Solcher Ergebnisse muß man sich
noch freuen! —

Sind wir nun in politischer und wirthschaftlicher Beziehung seit frühern
Jahrhunderten stark zurückgegangen, so sind die geistigen Fähigkeiten der
Nordniederländer in Betreff literarischer Erzeugnisse zu keiner Zeit glänzend
gewesen. Mit der Zeit, wo eine eigentliche holländische Literatur beginnt,
tritt auch eine Masseneinwanderung protestantischer Flüchtlinge ein, welche
Kunstsinn, Gewerbfleiß und feinere Sitten einführten. Unsere ganze Literatur
ist Uebersetzung und Nachbildung fremder Vorbilder. Nur einzelne wenige
Schriften sind echt nationale Erzeugnisse, die dem poesielosen, praktischen und
theilweise rohen Volkscharakter entsprungen sind. Eine eigentliche Volks¬
literatur besteht nicht. Die bombastische Poesie Bilderdyk's, des bedeutendsten
unserer Schriftsteller der letzten Zeit, ist nur den Gelehrten bekannt. Die
Schaubühne ist im tiefsten Verfall und eine Literatur für dieselbe besteht
gegenwärtig nicht.

Wie unsere literarischen Erzeugnisse wenig Charakteristisches bieten —
will man nicht eine gewisse Breite dafür ansehen — so verliert auch unsr


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[0073] Freiheit beeinträchtigte: So dient unsere Freiheit zur Abwehr jeder Verbesserung. Aber es wäre Unrecht, unsere wirthschaftliche Schwäche allein der arbei¬ tenden Klasse zur Schuld zu legen; auch bei der besitzenden Klasse findet man gleichartige Erscheinungen. In derselben herrscht noch viel Abneigung gegen guten, zeitgemäßen Unterricht. Der Handel bleibt in seinem alten Gange und sucht keine neuen Abnehmer. Unsere Verbindungen mit Amerika, Australien, China sind fast Null, und was noch von unsern Erzeugnissen nach diesen Ländern ausgeführt wird, geschieht größtentheils für deutsche Rechnung. Dagegen speculirt man lieber an der Börse und legt seine Capi¬ talien in. fremden Staatspapieren an. Daß die Holländer von ihrem Zustand keinen klaren Begriff haben oder haben wollen, zeigt sich daraus, daß alljährlich in der Thronrede dem Volke unser Fortschritt verkündet wird, und daß Alles bei uns xour Is Msux äa.us 1o mÄIlöur ach morales ist. Man fürchtet sich, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen und glaubt lieber der officiellen Lüge, als den Ergebnissen eigener An¬ schauung. Nur Landbau und Viehzucht blühen durch den Export nach England. Der angesessene Bauer ist in letzter Zeit zu großem Wohlstand gelangt und der Preis der Ländereien steigt fortwährend. Der englische Arbeiter .nährt sich vom Vieh unserer Weiden, während unsere Arbeiter höchstens die Schlacht¬ abfälle, die von drüben wieder hierhergebracht werden, zu verzehren bekom¬ men. Vor einigen Jahren rühmte ein officieller Rapport die vermehrte Ein¬ fuhr solcher Abfälle als einen Fortschritt. Solcher Ergebnisse muß man sich noch freuen! — Sind wir nun in politischer und wirthschaftlicher Beziehung seit frühern Jahrhunderten stark zurückgegangen, so sind die geistigen Fähigkeiten der Nordniederländer in Betreff literarischer Erzeugnisse zu keiner Zeit glänzend gewesen. Mit der Zeit, wo eine eigentliche holländische Literatur beginnt, tritt auch eine Masseneinwanderung protestantischer Flüchtlinge ein, welche Kunstsinn, Gewerbfleiß und feinere Sitten einführten. Unsere ganze Literatur ist Uebersetzung und Nachbildung fremder Vorbilder. Nur einzelne wenige Schriften sind echt nationale Erzeugnisse, die dem poesielosen, praktischen und theilweise rohen Volkscharakter entsprungen sind. Eine eigentliche Volks¬ literatur besteht nicht. Die bombastische Poesie Bilderdyk's, des bedeutendsten unserer Schriftsteller der letzten Zeit, ist nur den Gelehrten bekannt. Die Schaubühne ist im tiefsten Verfall und eine Literatur für dieselbe besteht gegenwärtig nicht. Wie unsere literarischen Erzeugnisse wenig Charakteristisches bieten — will man nicht eine gewisse Breite dafür ansehen — so verliert auch unsr Grenzbottli I. >87I- 9

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/73>, abgerufen am 29.06.2024.