Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

nachmaligen König Wilhelm I. ins Land, unter der Bedingung .dem
Lande eine Verfassung zu verleihen. Diese blieb, nach einer Veränderung
im Jahre 1815, bis zum, Jahre 1848 in Kraft. Diese Verfassung war
nichts weniger als liberal, aber die Niederländer befanden sich wohl dabei,
nur Belgien war mit dem geringen Maß der Freiheit nicht zufrieden.
Ein Bedürfniß in liberaler Richtung gab sich in Holland nicht kund,
und noch im Jahre 1844 wurde in den Generalstaaten ein Antrag des
Herrn Thorbecke auf Verfassungsrevision mit großer Majorität verworfen. Bei
den immer höher gehenden Wogen der politischen Bewegung im Auslande,
die aber in unserem Lande, wie die Wellen an flachem Meeresstrande verliefen,
sah sich König Wilhelm II. zu Ende des Jahres 1847 veranlaßt, jetzt selbst
eine Revision zu beantragen. So entstand unter den Bewegungen, die im
Jahre 1848 draußen stattfanden, unsere jetzige Constitution, die das Volk
dankbar annahm als ein Geschenk, dessen Bedürfniß ihm erst noch erwachsen
mußte. Es wurde dabei mehr dem allgemeinen Zeitgeist als dem Geiste
des Volkes Rechnung getragen.

Darum ist auch unsere Staatseinrichtung so lange Form geblieben, in
die man sich hineingewöhnen muß. Wäre dieselbe durch Kampf einer wider¬
strebenden Macht abgerungen worden, dann wäre die Volkskraft dadurch er¬
starkt. Jetzt hat diese nie Gelegenheit zur Ausübung gehabt, und man
könnte die Holländer füglich verzogene Kinder nennen, die ihre politischen
Wünsche erfüllt sahen, ehe sie sich äußern konnten, die aber zu eigenem Han¬
deln untauglich gemacht wurden.

Wir haben schon früher in diesen Blättern auf die Mängel hiesiger Zu¬
stände hingewiesen und dabei die Hoffnung ausgesprochen, eine bessere geistige
Entwicklung würde die Volkskraft wieder beleben. Diese Erwartung war in¬
soweit berechtigt, als unsere neu-eingerichteten Schulen die Grundlage zu
einer tüchtigen Bildung legen sollen. Aber auch diese Hoffnung scheint nach
den bisherigen Erfahrungen zu schwinden. Wohl hat man deutsche Schulen
zum Borbild genommen, und steckt die Ziele selbst noch höher als diese; aber
es fehlen die Mittel, um den Zweck zu erreichen; keine genügenden, päda¬
gogisch entwickelten Lehrkräfte, keine Fürsorge, um dieselben heranzubilden,
keine weitern Hilfsmittel in guten Schulbüchern -- kurz, der ganze lebendige
Apparat ist mangelhaft. Eine unmethodische, geistlose Ablichtung füllt die
Köpfe unserer Jugend mit Oberflächlichkeit und Halbheit, welche den äußern
Schein wissenschaftlicher Bildung geben kann, aber aller Gründlichkeit ent¬
behrt. Man fürchtet sich vor der Zucht des Geistes. Unter der Sucht, allen
Unterricht in angenehme Form zu kleiden, alle Pedanterie zu vermeiden,
wuchert dilettantisches Halbwissen.

Nur jahrelange Erfahrung kann hierin Besserung bringen, falls man


nachmaligen König Wilhelm I. ins Land, unter der Bedingung .dem
Lande eine Verfassung zu verleihen. Diese blieb, nach einer Veränderung
im Jahre 1815, bis zum, Jahre 1848 in Kraft. Diese Verfassung war
nichts weniger als liberal, aber die Niederländer befanden sich wohl dabei,
nur Belgien war mit dem geringen Maß der Freiheit nicht zufrieden.
Ein Bedürfniß in liberaler Richtung gab sich in Holland nicht kund,
und noch im Jahre 1844 wurde in den Generalstaaten ein Antrag des
Herrn Thorbecke auf Verfassungsrevision mit großer Majorität verworfen. Bei
den immer höher gehenden Wogen der politischen Bewegung im Auslande,
die aber in unserem Lande, wie die Wellen an flachem Meeresstrande verliefen,
sah sich König Wilhelm II. zu Ende des Jahres 1847 veranlaßt, jetzt selbst
eine Revision zu beantragen. So entstand unter den Bewegungen, die im
Jahre 1848 draußen stattfanden, unsere jetzige Constitution, die das Volk
dankbar annahm als ein Geschenk, dessen Bedürfniß ihm erst noch erwachsen
mußte. Es wurde dabei mehr dem allgemeinen Zeitgeist als dem Geiste
des Volkes Rechnung getragen.

Darum ist auch unsere Staatseinrichtung so lange Form geblieben, in
die man sich hineingewöhnen muß. Wäre dieselbe durch Kampf einer wider¬
strebenden Macht abgerungen worden, dann wäre die Volkskraft dadurch er¬
starkt. Jetzt hat diese nie Gelegenheit zur Ausübung gehabt, und man
könnte die Holländer füglich verzogene Kinder nennen, die ihre politischen
Wünsche erfüllt sahen, ehe sie sich äußern konnten, die aber zu eigenem Han¬
deln untauglich gemacht wurden.

Wir haben schon früher in diesen Blättern auf die Mängel hiesiger Zu¬
stände hingewiesen und dabei die Hoffnung ausgesprochen, eine bessere geistige
Entwicklung würde die Volkskraft wieder beleben. Diese Erwartung war in¬
soweit berechtigt, als unsere neu-eingerichteten Schulen die Grundlage zu
einer tüchtigen Bildung legen sollen. Aber auch diese Hoffnung scheint nach
den bisherigen Erfahrungen zu schwinden. Wohl hat man deutsche Schulen
zum Borbild genommen, und steckt die Ziele selbst noch höher als diese; aber
es fehlen die Mittel, um den Zweck zu erreichen; keine genügenden, päda¬
gogisch entwickelten Lehrkräfte, keine Fürsorge, um dieselben heranzubilden,
keine weitern Hilfsmittel in guten Schulbüchern — kurz, der ganze lebendige
Apparat ist mangelhaft. Eine unmethodische, geistlose Ablichtung füllt die
Köpfe unserer Jugend mit Oberflächlichkeit und Halbheit, welche den äußern
Schein wissenschaftlicher Bildung geben kann, aber aller Gründlichkeit ent¬
behrt. Man fürchtet sich vor der Zucht des Geistes. Unter der Sucht, allen
Unterricht in angenehme Form zu kleiden, alle Pedanterie zu vermeiden,
wuchert dilettantisches Halbwissen.

Nur jahrelange Erfahrung kann hierin Besserung bringen, falls man


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0071" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/125315"/>
            <p xml:id="ID_257" prev="#ID_256"> nachmaligen König Wilhelm I. ins Land, unter der Bedingung .dem<lb/>
Lande eine Verfassung zu verleihen. Diese blieb, nach einer Veränderung<lb/>
im Jahre 1815, bis zum, Jahre 1848 in Kraft. Diese Verfassung war<lb/>
nichts weniger als liberal, aber die Niederländer befanden sich wohl dabei,<lb/>
nur Belgien war mit dem geringen Maß der Freiheit nicht zufrieden.<lb/>
Ein Bedürfniß in liberaler Richtung gab sich in Holland nicht kund,<lb/>
und noch im Jahre 1844 wurde in den Generalstaaten ein Antrag des<lb/>
Herrn Thorbecke auf Verfassungsrevision mit großer Majorität verworfen. Bei<lb/>
den immer höher gehenden Wogen der politischen Bewegung im Auslande,<lb/>
die aber in unserem Lande, wie die Wellen an flachem Meeresstrande verliefen,<lb/>
sah sich König Wilhelm II. zu Ende des Jahres 1847 veranlaßt, jetzt selbst<lb/>
eine Revision zu beantragen. So entstand unter den Bewegungen, die im<lb/>
Jahre 1848 draußen stattfanden, unsere jetzige Constitution, die das Volk<lb/>
dankbar annahm als ein Geschenk, dessen Bedürfniß ihm erst noch erwachsen<lb/>
mußte. Es wurde dabei mehr dem allgemeinen Zeitgeist als dem Geiste<lb/>
des Volkes Rechnung getragen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_258"> Darum ist auch unsere Staatseinrichtung so lange Form geblieben, in<lb/>
die man sich hineingewöhnen muß. Wäre dieselbe durch Kampf einer wider¬<lb/>
strebenden Macht abgerungen worden, dann wäre die Volkskraft dadurch er¬<lb/>
starkt. Jetzt hat diese nie Gelegenheit zur Ausübung gehabt, und man<lb/>
könnte die Holländer füglich verzogene Kinder nennen, die ihre politischen<lb/>
Wünsche erfüllt sahen, ehe sie sich äußern konnten, die aber zu eigenem Han¬<lb/>
deln untauglich gemacht wurden.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_259"> Wir haben schon früher in diesen Blättern auf die Mängel hiesiger Zu¬<lb/>
stände hingewiesen und dabei die Hoffnung ausgesprochen, eine bessere geistige<lb/>
Entwicklung würde die Volkskraft wieder beleben. Diese Erwartung war in¬<lb/>
soweit berechtigt, als unsere neu-eingerichteten Schulen die Grundlage zu<lb/>
einer tüchtigen Bildung legen sollen. Aber auch diese Hoffnung scheint nach<lb/>
den bisherigen Erfahrungen zu schwinden. Wohl hat man deutsche Schulen<lb/>
zum Borbild genommen, und steckt die Ziele selbst noch höher als diese; aber<lb/>
es fehlen die Mittel, um den Zweck zu erreichen; keine genügenden, päda¬<lb/>
gogisch entwickelten Lehrkräfte, keine Fürsorge, um dieselben heranzubilden,<lb/>
keine weitern Hilfsmittel in guten Schulbüchern &#x2014; kurz, der ganze lebendige<lb/>
Apparat ist mangelhaft. Eine unmethodische, geistlose Ablichtung füllt die<lb/>
Köpfe unserer Jugend mit Oberflächlichkeit und Halbheit, welche den äußern<lb/>
Schein wissenschaftlicher Bildung geben kann, aber aller Gründlichkeit ent¬<lb/>
behrt. Man fürchtet sich vor der Zucht des Geistes. Unter der Sucht, allen<lb/>
Unterricht in angenehme Form zu kleiden, alle Pedanterie zu vermeiden,<lb/>
wuchert dilettantisches Halbwissen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_260" next="#ID_261"> Nur jahrelange Erfahrung kann hierin Besserung bringen, falls man</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0071] nachmaligen König Wilhelm I. ins Land, unter der Bedingung .dem Lande eine Verfassung zu verleihen. Diese blieb, nach einer Veränderung im Jahre 1815, bis zum, Jahre 1848 in Kraft. Diese Verfassung war nichts weniger als liberal, aber die Niederländer befanden sich wohl dabei, nur Belgien war mit dem geringen Maß der Freiheit nicht zufrieden. Ein Bedürfniß in liberaler Richtung gab sich in Holland nicht kund, und noch im Jahre 1844 wurde in den Generalstaaten ein Antrag des Herrn Thorbecke auf Verfassungsrevision mit großer Majorität verworfen. Bei den immer höher gehenden Wogen der politischen Bewegung im Auslande, die aber in unserem Lande, wie die Wellen an flachem Meeresstrande verliefen, sah sich König Wilhelm II. zu Ende des Jahres 1847 veranlaßt, jetzt selbst eine Revision zu beantragen. So entstand unter den Bewegungen, die im Jahre 1848 draußen stattfanden, unsere jetzige Constitution, die das Volk dankbar annahm als ein Geschenk, dessen Bedürfniß ihm erst noch erwachsen mußte. Es wurde dabei mehr dem allgemeinen Zeitgeist als dem Geiste des Volkes Rechnung getragen. Darum ist auch unsere Staatseinrichtung so lange Form geblieben, in die man sich hineingewöhnen muß. Wäre dieselbe durch Kampf einer wider¬ strebenden Macht abgerungen worden, dann wäre die Volkskraft dadurch er¬ starkt. Jetzt hat diese nie Gelegenheit zur Ausübung gehabt, und man könnte die Holländer füglich verzogene Kinder nennen, die ihre politischen Wünsche erfüllt sahen, ehe sie sich äußern konnten, die aber zu eigenem Han¬ deln untauglich gemacht wurden. Wir haben schon früher in diesen Blättern auf die Mängel hiesiger Zu¬ stände hingewiesen und dabei die Hoffnung ausgesprochen, eine bessere geistige Entwicklung würde die Volkskraft wieder beleben. Diese Erwartung war in¬ soweit berechtigt, als unsere neu-eingerichteten Schulen die Grundlage zu einer tüchtigen Bildung legen sollen. Aber auch diese Hoffnung scheint nach den bisherigen Erfahrungen zu schwinden. Wohl hat man deutsche Schulen zum Borbild genommen, und steckt die Ziele selbst noch höher als diese; aber es fehlen die Mittel, um den Zweck zu erreichen; keine genügenden, päda¬ gogisch entwickelten Lehrkräfte, keine Fürsorge, um dieselben heranzubilden, keine weitern Hilfsmittel in guten Schulbüchern — kurz, der ganze lebendige Apparat ist mangelhaft. Eine unmethodische, geistlose Ablichtung füllt die Köpfe unserer Jugend mit Oberflächlichkeit und Halbheit, welche den äußern Schein wissenschaftlicher Bildung geben kann, aber aller Gründlichkeit ent¬ behrt. Man fürchtet sich vor der Zucht des Geistes. Unter der Sucht, allen Unterricht in angenehme Form zu kleiden, alle Pedanterie zu vermeiden, wuchert dilettantisches Halbwissen. Nur jahrelange Erfahrung kann hierin Besserung bringen, falls man

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/71
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/71>, abgerufen am 28.09.2024.