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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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welche Weise und in welcher Richtung, darüber fehlt der klare Begriff. Man
weiß nicht, was, wohinaus man will; wir haben kein Ziel, dem wir nach¬
streben. Das Schlimmste ist, daß man glaubt, es sei nirgendwo besser, als
bei uns. Diese Selbstüberhebung ist die Carricatur des begründeten Selbst¬
gefühls, das unsere Vorfahren aus ihren eignen Thaten schöpften.

Man möchte wohl gerne wie bisher in Ruhe und Frieden weiter leben;
Jeder für sich selbst so viel, und für Andere so wenig, wie möglich, sorgen;
seine Freiheit, die ihm in seinem vortrefflichen Vaterlande bescheert ist, ge¬
nießen, und unsern lieben Herrgott für Andere sorgen lassen. Der Gemein¬
sinn fehlt den Holländern. Man verlangt von Andern, von der Regierung
Alles, kritisirt ohne Nachsicht, was so ganz ohne eigene Mühe noch zu Stande
kommt, weiß aber selbst nichts besser zu machen. Nach dem Spruche: 1'uinon
kind ig. koree, errichtet man unzählige Vereine zu gemeinnützigen Zwecken nicht
um in denselben selbstthätig zu wirken, sondern um sich durch einen Geldbei¬
trag von jeder weiteren Verpflichtung zum Handeln loszukaufen. Wenn dann
schwere Zeiten eintreten, so wie jetzt eben der Fall ist, und die ganze
Nation zu selbsteigener Thätigkeit gerufen wird, dann ist überall Unschlüssig¬
keit, Zerfahrenheit, Unfähigkeit.

Man sollte glauben, ein Volk, welches so lange in freier Selbstbe¬
stimmung gelebt hat, dessen Staatsformen noch mancher andern Nation zum
Beispiel dienen können , müßte durch den Gebrauch seiner Freiheit zu einem
tüchtigen, regen Leben herangewachsen sein. Aber einestheils wird von dieser
Freiheit sehr häusig ein ganz verkehrter Gebrauch gemacht, anderentheils ist
die Auffassung und Idee derselben ein fast dogmatischer Glaube geworden, ein
Schema, in welches Alles passen muß. Wir Holländer sind einmal ein libe¬
rales Volk; Alles, was anderswo nicht so ist, wie bei uns, ist nicht liberal.
Der Liberalismus ist indeß nur Form, kein wirkliches Leben. Unsere Staats¬
einrichtung ist keine Errungenschaft des Volkes, sondern freiwillige Gabe
Anderer; denn es ist unmöglich in der Organisation unserer frühern Republik
die Keime zu unserer jetzigen Staatsform, dem modernen Constitutionalismus,
zu finden. Dieser ist importirt und hat nur einige alte Formen nicht ganz
vernichtet, aber zu Anachronismen gemacht, weil sie sich unter den neuen Zu¬
ständen nicht entwickeln können.

Als die Niederlande von der Napoleonischen Herrschaft durch die
Verbündeten befreit wurden, war die Republik todt und begraben, die
Nation kraft- und willenlos. Die Erlösung vom französischen Joch war
wie über Nacht gekommen, und Gott weiß, was aus dem Lande ge¬
worden wäre, hätten nicht einige wenige Männer, an deren Spitze der
Graf van Hogendorp stand, den Muth gehabt, im Namen des Prinzen
von Oranien eine provisorische Regierung zu constituiren. Er rief den


welche Weise und in welcher Richtung, darüber fehlt der klare Begriff. Man
weiß nicht, was, wohinaus man will; wir haben kein Ziel, dem wir nach¬
streben. Das Schlimmste ist, daß man glaubt, es sei nirgendwo besser, als
bei uns. Diese Selbstüberhebung ist die Carricatur des begründeten Selbst¬
gefühls, das unsere Vorfahren aus ihren eignen Thaten schöpften.

Man möchte wohl gerne wie bisher in Ruhe und Frieden weiter leben;
Jeder für sich selbst so viel, und für Andere so wenig, wie möglich, sorgen;
seine Freiheit, die ihm in seinem vortrefflichen Vaterlande bescheert ist, ge¬
nießen, und unsern lieben Herrgott für Andere sorgen lassen. Der Gemein¬
sinn fehlt den Holländern. Man verlangt von Andern, von der Regierung
Alles, kritisirt ohne Nachsicht, was so ganz ohne eigene Mühe noch zu Stande
kommt, weiß aber selbst nichts besser zu machen. Nach dem Spruche: 1'uinon
kind ig. koree, errichtet man unzählige Vereine zu gemeinnützigen Zwecken nicht
um in denselben selbstthätig zu wirken, sondern um sich durch einen Geldbei¬
trag von jeder weiteren Verpflichtung zum Handeln loszukaufen. Wenn dann
schwere Zeiten eintreten, so wie jetzt eben der Fall ist, und die ganze
Nation zu selbsteigener Thätigkeit gerufen wird, dann ist überall Unschlüssig¬
keit, Zerfahrenheit, Unfähigkeit.

Man sollte glauben, ein Volk, welches so lange in freier Selbstbe¬
stimmung gelebt hat, dessen Staatsformen noch mancher andern Nation zum
Beispiel dienen können , müßte durch den Gebrauch seiner Freiheit zu einem
tüchtigen, regen Leben herangewachsen sein. Aber einestheils wird von dieser
Freiheit sehr häusig ein ganz verkehrter Gebrauch gemacht, anderentheils ist
die Auffassung und Idee derselben ein fast dogmatischer Glaube geworden, ein
Schema, in welches Alles passen muß. Wir Holländer sind einmal ein libe¬
rales Volk; Alles, was anderswo nicht so ist, wie bei uns, ist nicht liberal.
Der Liberalismus ist indeß nur Form, kein wirkliches Leben. Unsere Staats¬
einrichtung ist keine Errungenschaft des Volkes, sondern freiwillige Gabe
Anderer; denn es ist unmöglich in der Organisation unserer frühern Republik
die Keime zu unserer jetzigen Staatsform, dem modernen Constitutionalismus,
zu finden. Dieser ist importirt und hat nur einige alte Formen nicht ganz
vernichtet, aber zu Anachronismen gemacht, weil sie sich unter den neuen Zu¬
ständen nicht entwickeln können.

Als die Niederlande von der Napoleonischen Herrschaft durch die
Verbündeten befreit wurden, war die Republik todt und begraben, die
Nation kraft- und willenlos. Die Erlösung vom französischen Joch war
wie über Nacht gekommen, und Gott weiß, was aus dem Lande ge¬
worden wäre, hätten nicht einige wenige Männer, an deren Spitze der
Graf van Hogendorp stand, den Muth gehabt, im Namen des Prinzen
von Oranien eine provisorische Regierung zu constituiren. Er rief den


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/70>, abgerufen am 28.09.2024.