Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Mannigfaltigkeit und Buntheit, welche durch diesen Reichthum an
Schauplätzen und Zeiten der Handlung bedingt ist, wird noch vermehrt durch
die Liebhaberei des Verfassers, die Personen zu häufen, namentlich auch die
Nebenpersonen stets massenhaft auftreten zu lassen. Die letztgenannte Nei¬
gung wächst, je weiter der Roman vorschreitet und sich unserer jüngsten Ver¬
gangenheit und der Gegenwart nähert. Jede interessante Persönlichkeit, welche
mit dem Verfasser in Berührung gekommen ist, jeder wunderliche Kauz, jedes
Original, die ihm einmal über den Weg gelaufen sind, hat er eingefangen
wie einen Schmetterling, ihn an die Nadel gespießt, ihn hübsch auseinander¬
gefaltet und in den weiten Räumen seines Romans zur Schau gestellt. Dies
ist namentlich der Fall für die letzten 40 Jahre, während deren der Verfasser
selbst auf der Bühne des deutschen Lebens einhergeschritten; hier nennt er die
Leute auch stets bei ihren wirklichen Namen, er gibt Porträts, Photographien
und Silhouetten von Zeitgenossen.

Diese Beschaffenheit des Werks macht es selbst einem aufmerksamen
Leser manchmal ein wenig schwer, den Faden der Geschichte in der Hand
zu behalten, namentlich wenn man nicht den ganzen Roman auf ein"
mal, sondern, wie das bei einem solchen Umfange und bei dem successiven
Erscheinen nicht anders möglich ist, nur mit Unterbrechungen liest. Es geht
einem da, wie so manchmal im praktischen Leben. Da kommt Jemand und
prätendirt. ein alter Bekannter zu sein. Man erinnert sich auch seiner, aber
man "kann im Augenblick doch nicht recht darauf kommen, wo man ihn hin¬
thun soll." Oder es kommt gar wie in einer alten gemüthlichen Posse, die
ich vor vielen Jahren in dem Wiener Vorstadttheater sah. Der Herr Graf
zeigt auf einen Dritten und fragt seinen eigenen Diener: "Staberl, sieht
dieser Herr dem Dingsda nicht sehr ähnlich? Und Staberl antwortet:


"Wen Jhro Gnaden meint, weiß ich zwar nicht;
"Doch hat er ein sehr ähnliches Gesicht!"

Erkennt man auch die Person wieder, so muß man sich doch mit einiger
Anstrengung auf die Voraussetzungen besinnen, unter welchen man sie früher
kennen zu lernen die Ehre hatte, und welche doch maßgebend sind und sein
müssen für ihr neues Auftreten. Die sich aus den weitverzweigten, mannig¬
faltigen und ihrem zeitlichen Umfange nach colossalen Handlungen ergebenden
Schwierigkeiten werden noch vermehrt durch das Aufeinanderfolgen so vieler
Generationen, welche sich ehelich und äußerlich kreuzen, so daß die Aufstellung
eines Stammbaumes oft ebenso erwünscht als schwierig sein würde.

Dadurch, daß der Kurstaat Hannover von dem König von England be¬
herrscht wurde, nahm derselbe damals an den europäischen und außereuropäi¬
schen Verwickelungen in höherem Grade, als ein gewöhnliches deutsches Terri-


8*

Die Mannigfaltigkeit und Buntheit, welche durch diesen Reichthum an
Schauplätzen und Zeiten der Handlung bedingt ist, wird noch vermehrt durch
die Liebhaberei des Verfassers, die Personen zu häufen, namentlich auch die
Nebenpersonen stets massenhaft auftreten zu lassen. Die letztgenannte Nei¬
gung wächst, je weiter der Roman vorschreitet und sich unserer jüngsten Ver¬
gangenheit und der Gegenwart nähert. Jede interessante Persönlichkeit, welche
mit dem Verfasser in Berührung gekommen ist, jeder wunderliche Kauz, jedes
Original, die ihm einmal über den Weg gelaufen sind, hat er eingefangen
wie einen Schmetterling, ihn an die Nadel gespießt, ihn hübsch auseinander¬
gefaltet und in den weiten Räumen seines Romans zur Schau gestellt. Dies
ist namentlich der Fall für die letzten 40 Jahre, während deren der Verfasser
selbst auf der Bühne des deutschen Lebens einhergeschritten; hier nennt er die
Leute auch stets bei ihren wirklichen Namen, er gibt Porträts, Photographien
und Silhouetten von Zeitgenossen.

Diese Beschaffenheit des Werks macht es selbst einem aufmerksamen
Leser manchmal ein wenig schwer, den Faden der Geschichte in der Hand
zu behalten, namentlich wenn man nicht den ganzen Roman auf ein«
mal, sondern, wie das bei einem solchen Umfange und bei dem successiven
Erscheinen nicht anders möglich ist, nur mit Unterbrechungen liest. Es geht
einem da, wie so manchmal im praktischen Leben. Da kommt Jemand und
prätendirt. ein alter Bekannter zu sein. Man erinnert sich auch seiner, aber
man „kann im Augenblick doch nicht recht darauf kommen, wo man ihn hin¬
thun soll." Oder es kommt gar wie in einer alten gemüthlichen Posse, die
ich vor vielen Jahren in dem Wiener Vorstadttheater sah. Der Herr Graf
zeigt auf einen Dritten und fragt seinen eigenen Diener: „Staberl, sieht
dieser Herr dem Dingsda nicht sehr ähnlich? Und Staberl antwortet:


„Wen Jhro Gnaden meint, weiß ich zwar nicht;
„Doch hat er ein sehr ähnliches Gesicht!"

Erkennt man auch die Person wieder, so muß man sich doch mit einiger
Anstrengung auf die Voraussetzungen besinnen, unter welchen man sie früher
kennen zu lernen die Ehre hatte, und welche doch maßgebend sind und sein
müssen für ihr neues Auftreten. Die sich aus den weitverzweigten, mannig¬
faltigen und ihrem zeitlichen Umfange nach colossalen Handlungen ergebenden
Schwierigkeiten werden noch vermehrt durch das Aufeinanderfolgen so vieler
Generationen, welche sich ehelich und äußerlich kreuzen, so daß die Aufstellung
eines Stammbaumes oft ebenso erwünscht als schwierig sein würde.

Dadurch, daß der Kurstaat Hannover von dem König von England be¬
herrscht wurde, nahm derselbe damals an den europäischen und außereuropäi¬
schen Verwickelungen in höherem Grade, als ein gewöhnliches deutsches Terri-


8*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0067" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/125311"/>
            <p xml:id="ID_239"> Die Mannigfaltigkeit und Buntheit, welche durch diesen Reichthum an<lb/>
Schauplätzen und Zeiten der Handlung bedingt ist, wird noch vermehrt durch<lb/>
die Liebhaberei des Verfassers, die Personen zu häufen, namentlich auch die<lb/>
Nebenpersonen stets massenhaft auftreten zu lassen. Die letztgenannte Nei¬<lb/>
gung wächst, je weiter der Roman vorschreitet und sich unserer jüngsten Ver¬<lb/>
gangenheit und der Gegenwart nähert. Jede interessante Persönlichkeit, welche<lb/>
mit dem Verfasser in Berührung gekommen ist, jeder wunderliche Kauz, jedes<lb/>
Original, die ihm einmal über den Weg gelaufen sind, hat er eingefangen<lb/>
wie einen Schmetterling, ihn an die Nadel gespießt, ihn hübsch auseinander¬<lb/>
gefaltet und in den weiten Räumen seines Romans zur Schau gestellt. Dies<lb/>
ist namentlich der Fall für die letzten 40 Jahre, während deren der Verfasser<lb/>
selbst auf der Bühne des deutschen Lebens einhergeschritten; hier nennt er die<lb/>
Leute auch stets bei ihren wirklichen Namen, er gibt Porträts, Photographien<lb/>
und Silhouetten von Zeitgenossen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_240"> Diese Beschaffenheit des Werks macht es selbst einem aufmerksamen<lb/>
Leser manchmal ein wenig schwer, den Faden der Geschichte in der Hand<lb/>
zu behalten, namentlich wenn man nicht den ganzen Roman auf ein«<lb/>
mal, sondern, wie das bei einem solchen Umfange und bei dem successiven<lb/>
Erscheinen nicht anders möglich ist, nur mit Unterbrechungen liest. Es geht<lb/>
einem da, wie so manchmal im praktischen Leben. Da kommt Jemand und<lb/>
prätendirt. ein alter Bekannter zu sein. Man erinnert sich auch seiner, aber<lb/>
man &#x201E;kann im Augenblick doch nicht recht darauf kommen, wo man ihn hin¬<lb/>
thun soll." Oder es kommt gar wie in einer alten gemüthlichen Posse, die<lb/>
ich vor vielen Jahren in dem Wiener Vorstadttheater sah. Der Herr Graf<lb/>
zeigt auf einen Dritten und fragt seinen eigenen Diener: &#x201E;Staberl, sieht<lb/>
dieser Herr dem Dingsda nicht sehr ähnlich? Und Staberl antwortet:</p><lb/>
            <quote> &#x201E;Wen Jhro Gnaden meint, weiß ich zwar nicht;<lb/>
&#x201E;Doch hat er ein sehr ähnliches Gesicht!"</quote><lb/>
            <p xml:id="ID_241"> Erkennt man auch die Person wieder, so muß man sich doch mit einiger<lb/>
Anstrengung auf die Voraussetzungen besinnen, unter welchen man sie früher<lb/>
kennen zu lernen die Ehre hatte, und welche doch maßgebend sind und sein<lb/>
müssen für ihr neues Auftreten. Die sich aus den weitverzweigten, mannig¬<lb/>
faltigen und ihrem zeitlichen Umfange nach colossalen Handlungen ergebenden<lb/>
Schwierigkeiten werden noch vermehrt durch das Aufeinanderfolgen so vieler<lb/>
Generationen, welche sich ehelich und äußerlich kreuzen, so daß die Aufstellung<lb/>
eines Stammbaumes oft ebenso erwünscht als schwierig sein würde.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_242" next="#ID_243"> Dadurch, daß der Kurstaat Hannover von dem König von England be¬<lb/>
herrscht wurde, nahm derselbe damals an den europäischen und außereuropäi¬<lb/>
schen Verwickelungen in höherem Grade, als ein gewöhnliches deutsches Terri-</p><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"> 8*</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0067] Die Mannigfaltigkeit und Buntheit, welche durch diesen Reichthum an Schauplätzen und Zeiten der Handlung bedingt ist, wird noch vermehrt durch die Liebhaberei des Verfassers, die Personen zu häufen, namentlich auch die Nebenpersonen stets massenhaft auftreten zu lassen. Die letztgenannte Nei¬ gung wächst, je weiter der Roman vorschreitet und sich unserer jüngsten Ver¬ gangenheit und der Gegenwart nähert. Jede interessante Persönlichkeit, welche mit dem Verfasser in Berührung gekommen ist, jeder wunderliche Kauz, jedes Original, die ihm einmal über den Weg gelaufen sind, hat er eingefangen wie einen Schmetterling, ihn an die Nadel gespießt, ihn hübsch auseinander¬ gefaltet und in den weiten Räumen seines Romans zur Schau gestellt. Dies ist namentlich der Fall für die letzten 40 Jahre, während deren der Verfasser selbst auf der Bühne des deutschen Lebens einhergeschritten; hier nennt er die Leute auch stets bei ihren wirklichen Namen, er gibt Porträts, Photographien und Silhouetten von Zeitgenossen. Diese Beschaffenheit des Werks macht es selbst einem aufmerksamen Leser manchmal ein wenig schwer, den Faden der Geschichte in der Hand zu behalten, namentlich wenn man nicht den ganzen Roman auf ein« mal, sondern, wie das bei einem solchen Umfange und bei dem successiven Erscheinen nicht anders möglich ist, nur mit Unterbrechungen liest. Es geht einem da, wie so manchmal im praktischen Leben. Da kommt Jemand und prätendirt. ein alter Bekannter zu sein. Man erinnert sich auch seiner, aber man „kann im Augenblick doch nicht recht darauf kommen, wo man ihn hin¬ thun soll." Oder es kommt gar wie in einer alten gemüthlichen Posse, die ich vor vielen Jahren in dem Wiener Vorstadttheater sah. Der Herr Graf zeigt auf einen Dritten und fragt seinen eigenen Diener: „Staberl, sieht dieser Herr dem Dingsda nicht sehr ähnlich? Und Staberl antwortet: „Wen Jhro Gnaden meint, weiß ich zwar nicht; „Doch hat er ein sehr ähnliches Gesicht!" Erkennt man auch die Person wieder, so muß man sich doch mit einiger Anstrengung auf die Voraussetzungen besinnen, unter welchen man sie früher kennen zu lernen die Ehre hatte, und welche doch maßgebend sind und sein müssen für ihr neues Auftreten. Die sich aus den weitverzweigten, mannig¬ faltigen und ihrem zeitlichen Umfange nach colossalen Handlungen ergebenden Schwierigkeiten werden noch vermehrt durch das Aufeinanderfolgen so vieler Generationen, welche sich ehelich und äußerlich kreuzen, so daß die Aufstellung eines Stammbaumes oft ebenso erwünscht als schwierig sein würde. Dadurch, daß der Kurstaat Hannover von dem König von England be¬ herrscht wurde, nahm derselbe damals an den europäischen und außereuropäi¬ schen Verwickelungen in höherem Grade, als ein gewöhnliches deutsches Terri- 8*

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/67
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/67>, abgerufen am 28.09.2024.