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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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torium, Antheil, wenngleich nur leidenden Antheil. Dieser Umstand gab
dem Verfasser Gelegenheit, die handelnden Personen, welche fast alle dem
niedersächsischen Boden entsprossen sind, von da nicht nur nach den übrigen
deutschen Ländern und Gauen hinüber zu führen, sondern auch weit über die
Grenzen Deutschlands hinaus zu verpflanzen. Ich weiß nicht, ob ich dies
die Stärke oder die Schwäche des Werkes nennen soll, wäre aber für meine
Person geneigt, eher das letztere zu thun, und zwar aus folgenden Gründen:
Wenn uns der Verfasser nach Neapel, Florenz und Raya; nach New-
York, Washington und Pittsburg; nach Tunis, Tripolis und Zuwan führt:
so wirdlsich mancher stoffhungrige Leser dieser bunten Mannigfaltigkeit des
Werkes erfreuen, aber der künstlerische und historische Werth des letzteren
leidet darunter; der künstlerische, weil die Einheit der Handlung zu sehr be¬
einträchtigt wird; der historische, weil das sittengeschichtliche Moment, offen¬
bar das bedeutsamste in dem Roman, dadurch öfters auf längere Zeit ganz
zurücktritt.

Für Amerika hatte Oppermann eine ganz besondere Veranlassung; er
war nämlich durch die Familie des Doctor Justus Erich Bollmann, eines
Hannoveraners, der ein wechselvolles Leben in Oestreich, England, Frankreich
und Nordamerika geführt und von dem uns schon Varnhagen von Ense ein
Lebensbild in seinen "Denkwürdigkeiten" (Band I.) gegeben hat, in den Besitz
der Briefe gelangt, welche derselbe am Ende des vorigen und am Anfange
dieses Jahrhunderts an seinen Vater geschrieben hat. Es ist wahr, diese
Briefe sind für uns sehr interessant und lehrreich, sowohl in Betreff der da¬
maligen politischen und socialen Zustände der jung aufstrebenden Union, als
auch in Betreff des Verhältnisses und der Wechselwirkungen zwischen ihr und
dem altersschwachen, von tausend Krankheiten und Schmerzen damals heim¬
gesuchten Europa. Aber es fehlt doch immer etwas an Fleisch und Blut.
Es ist mehr Studium als Dichtung. Wir würden es, apart servirt, besser
goutiren, als eingekocht in dieses Chaos von Roman.

In Süditalien, das ich aus eigener Anschauung kenne, ist der Verfasser
nicht stets genau orientirt, und obgleich ich hinsichtlich Tunis, Tripolis und
Zuwan ein Gleiches nicht von mir versichern kann, so zweifle ich doch kaum
daran, daß der Dichter seiner Phantasie in Bezug auf Land und Leute mehr
freies Spiel gestattet hat, als es in einem fo ernsthaften culturhistorischen
Werke zulässig sein dürfte.

Ich naße mir nicht an, Kunstrichter zu sein, und mich interessirr der
Inhalt mehr als die Form. Ich muß aber gestehen, ich freue mich allemal,
wenn der Verfasser seinen Pegasus aus dem afrikanischen "Paradiese von
Zuwan" und den Barbaresken von Pittsburg oder von Raya wieder zurück¬
lenkt auf den norddeutschen, auf den niedersächsischen Boden, den er kennt


torium, Antheil, wenngleich nur leidenden Antheil. Dieser Umstand gab
dem Verfasser Gelegenheit, die handelnden Personen, welche fast alle dem
niedersächsischen Boden entsprossen sind, von da nicht nur nach den übrigen
deutschen Ländern und Gauen hinüber zu führen, sondern auch weit über die
Grenzen Deutschlands hinaus zu verpflanzen. Ich weiß nicht, ob ich dies
die Stärke oder die Schwäche des Werkes nennen soll, wäre aber für meine
Person geneigt, eher das letztere zu thun, und zwar aus folgenden Gründen:
Wenn uns der Verfasser nach Neapel, Florenz und Raya; nach New-
York, Washington und Pittsburg; nach Tunis, Tripolis und Zuwan führt:
so wirdlsich mancher stoffhungrige Leser dieser bunten Mannigfaltigkeit des
Werkes erfreuen, aber der künstlerische und historische Werth des letzteren
leidet darunter; der künstlerische, weil die Einheit der Handlung zu sehr be¬
einträchtigt wird; der historische, weil das sittengeschichtliche Moment, offen¬
bar das bedeutsamste in dem Roman, dadurch öfters auf längere Zeit ganz
zurücktritt.

Für Amerika hatte Oppermann eine ganz besondere Veranlassung; er
war nämlich durch die Familie des Doctor Justus Erich Bollmann, eines
Hannoveraners, der ein wechselvolles Leben in Oestreich, England, Frankreich
und Nordamerika geführt und von dem uns schon Varnhagen von Ense ein
Lebensbild in seinen „Denkwürdigkeiten" (Band I.) gegeben hat, in den Besitz
der Briefe gelangt, welche derselbe am Ende des vorigen und am Anfange
dieses Jahrhunderts an seinen Vater geschrieben hat. Es ist wahr, diese
Briefe sind für uns sehr interessant und lehrreich, sowohl in Betreff der da¬
maligen politischen und socialen Zustände der jung aufstrebenden Union, als
auch in Betreff des Verhältnisses und der Wechselwirkungen zwischen ihr und
dem altersschwachen, von tausend Krankheiten und Schmerzen damals heim¬
gesuchten Europa. Aber es fehlt doch immer etwas an Fleisch und Blut.
Es ist mehr Studium als Dichtung. Wir würden es, apart servirt, besser
goutiren, als eingekocht in dieses Chaos von Roman.

In Süditalien, das ich aus eigener Anschauung kenne, ist der Verfasser
nicht stets genau orientirt, und obgleich ich hinsichtlich Tunis, Tripolis und
Zuwan ein Gleiches nicht von mir versichern kann, so zweifle ich doch kaum
daran, daß der Dichter seiner Phantasie in Bezug auf Land und Leute mehr
freies Spiel gestattet hat, als es in einem fo ernsthaften culturhistorischen
Werke zulässig sein dürfte.

Ich naße mir nicht an, Kunstrichter zu sein, und mich interessirr der
Inhalt mehr als die Form. Ich muß aber gestehen, ich freue mich allemal,
wenn der Verfasser seinen Pegasus aus dem afrikanischen „Paradiese von
Zuwan" und den Barbaresken von Pittsburg oder von Raya wieder zurück¬
lenkt auf den norddeutschen, auf den niedersächsischen Boden, den er kennt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/68>, abgerufen am 28.09.2024.