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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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traute, seinen Roman betiteln: "Bis an das Ende aller welsischen Dinge/'
oder "Wie es war und wie es geworden." Die letztere Bezeichnung entspricht
eigentlich am besten der wirklichen Natur dieses großen culturhistorischen
Tableaus von säcularer Bedeutung. Es ist das streng historische Moment
der einander folgenden Ereignisse, verbunden mit der Schilderung der Cul¬
turzustände einer jeden Generation durch alle Schichten der dortigen Gesell¬
schaft. Es ist ein Versuch, das "Nacheinander" mit dem "Nebenein¬
ander" zu verbinden, durch den Kitt pragmatischer Darstellung. Sehen wir,
wie dieser Versuch gelungen.

Die Construction des Oppermann'schen Romans ist folgende: Er führt
uns um das Jahr 1770 nach Haustedt, einem kurfürstlich hannoverschen
Landstädtchen an der unteren Weser, das wohl mit Hoya, dem früheren
Wohnsitze des Verfassers, einige Verwandtschaft hat. Er öffnet uns das
Schloß der Gräfin, die Rittersitze des landsässigen Adels, die Häuser der Be¬
amten und Bürger, und den Rathskeller, welcher nämlich den Mittelpunkt
des Orts und geistig den Centralpunkt der Gesellschaft bildet und dirigirt
wird von Herrn Krummeier, nach dessen Tode aber von dem Oberkellner
Harry Knickmeyer, welcher die schielende Nichte und Universalerbin des Wirthes
geheirathet hat und von den Stammgästen mit einer etwas weitschweifigen
Vertraulichkeit der "Unterweser-Oberseelöwe" genannt wird. Dazu kommen
denn noch Landgeistliche, sowie Bauern von den umliegenden Meierhöfen,
welche letztern sich einer eigenthümlichen verwickelten Rechtsordnung erfreuen,
und dadurch öfters Stoffe zur Schürzung des Knotens liefern. Eine Bäue¬
rin, die Frau Dummeier, wird Amme bei der Gräfin, und es ist
interessant zu beobachten, in welch' grundverschiedener, derb realistischer Weise
Oppermann, im Vergleich zu Berthold Auerbach, das Problem der Verpflan¬
zung einer solchen Frau in vornehme Kreise, ihrer halben Acclimatisation
hier, ihrer Entfremdung dort, und die sich daraus ergebenden Conflicte und
Leiden behandelt. Der niedersächsische Bauer Dummeier ist etwas handfester
gerathen als der Tyroler oder Oberbayer Hanfi.

Dies ist der Stock der Gesellschaft, welche der Verfasser durch drei Ge¬
nerationen, durch neun Bände und durch ein ganzes Jahrhundert hindurch
-- vor der Sündfluth, während der Sündfluth, nach der Sündfluth, unter
der Fremdherrschaft und im Welfenreiche, ferner auch in den benachbarten
Territorien, an den Ufern der Werra und Fulda, am Fuße des Meißner, in
der Hansastadt Wien, in dem Olmütz des Bischofs, in dem Wien des Con-
gresses, in dem Neapel der Lady Hamilton und ihres Seehelden Nelson, in
dem Kopenhagen der Königin Mathilde und des Doctors Strümsen, in dem
Nordafrika der Barbaresken, in dem Washington Jefferson's und dem New-
York Baring's -- sich bewegen läßt.


traute, seinen Roman betiteln: „Bis an das Ende aller welsischen Dinge/'
oder „Wie es war und wie es geworden." Die letztere Bezeichnung entspricht
eigentlich am besten der wirklichen Natur dieses großen culturhistorischen
Tableaus von säcularer Bedeutung. Es ist das streng historische Moment
der einander folgenden Ereignisse, verbunden mit der Schilderung der Cul¬
turzustände einer jeden Generation durch alle Schichten der dortigen Gesell¬
schaft. Es ist ein Versuch, das „Nacheinander" mit dem „Nebenein¬
ander" zu verbinden, durch den Kitt pragmatischer Darstellung. Sehen wir,
wie dieser Versuch gelungen.

Die Construction des Oppermann'schen Romans ist folgende: Er führt
uns um das Jahr 1770 nach Haustedt, einem kurfürstlich hannoverschen
Landstädtchen an der unteren Weser, das wohl mit Hoya, dem früheren
Wohnsitze des Verfassers, einige Verwandtschaft hat. Er öffnet uns das
Schloß der Gräfin, die Rittersitze des landsässigen Adels, die Häuser der Be¬
amten und Bürger, und den Rathskeller, welcher nämlich den Mittelpunkt
des Orts und geistig den Centralpunkt der Gesellschaft bildet und dirigirt
wird von Herrn Krummeier, nach dessen Tode aber von dem Oberkellner
Harry Knickmeyer, welcher die schielende Nichte und Universalerbin des Wirthes
geheirathet hat und von den Stammgästen mit einer etwas weitschweifigen
Vertraulichkeit der „Unterweser-Oberseelöwe" genannt wird. Dazu kommen
denn noch Landgeistliche, sowie Bauern von den umliegenden Meierhöfen,
welche letztern sich einer eigenthümlichen verwickelten Rechtsordnung erfreuen,
und dadurch öfters Stoffe zur Schürzung des Knotens liefern. Eine Bäue¬
rin, die Frau Dummeier, wird Amme bei der Gräfin, und es ist
interessant zu beobachten, in welch' grundverschiedener, derb realistischer Weise
Oppermann, im Vergleich zu Berthold Auerbach, das Problem der Verpflan¬
zung einer solchen Frau in vornehme Kreise, ihrer halben Acclimatisation
hier, ihrer Entfremdung dort, und die sich daraus ergebenden Conflicte und
Leiden behandelt. Der niedersächsische Bauer Dummeier ist etwas handfester
gerathen als der Tyroler oder Oberbayer Hanfi.

Dies ist der Stock der Gesellschaft, welche der Verfasser durch drei Ge¬
nerationen, durch neun Bände und durch ein ganzes Jahrhundert hindurch
— vor der Sündfluth, während der Sündfluth, nach der Sündfluth, unter
der Fremdherrschaft und im Welfenreiche, ferner auch in den benachbarten
Territorien, an den Ufern der Werra und Fulda, am Fuße des Meißner, in
der Hansastadt Wien, in dem Olmütz des Bischofs, in dem Wien des Con-
gresses, in dem Neapel der Lady Hamilton und ihres Seehelden Nelson, in
dem Kopenhagen der Königin Mathilde und des Doctors Strümsen, in dem
Nordafrika der Barbaresken, in dem Washington Jefferson's und dem New-
York Baring's — sich bewegen läßt.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/66>, abgerufen am 28.09.2024.