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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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endlos aufeinander folgenden Bildern und Scenen. "Das ist der Roman
des Nacheinander", sagte Karl Gutzkow (ob ich wörtlich richtig citire,
weiß ich nicht, aber für richtige Wiedergabe des Sinnes stehe ich ein), "das
sind die chronologisch an einander gereihten Scenen mit ihrer klassischen Un-
glaubwürdigkeit, diese herrlichen, farbenreichen Gebilde, -- aber doch nur
Gebilde des Falschen, Unmöglichen, willkührlich Vorausgesetzten; ich biete
Euch statt dessen einen Roman, nicht minder reich an Scenen und Bildern,
aber es ist der Roman des Nebeneinander, der die Zwischenglieder zwischen
den entscheidenden Momenten nicht mechanisch, sondern organisch ausfüllt;
so daß die Willkühr der Erfindung durch den lebendigen Organismus des Gan¬
zen ersetzt wird; Ihr werdet nicht mehr einen einzelnen Abschnitt des Lebens,
Ihr werdet den ganzen Kreis der modernen Weltanschauung mit einem
Schlage überblicken."

Man kann wohl darüber streiten, ob das Princip Gutzkow's künstlerisch
richtig ist. Das wird man aber zugeben müssen, daß er der Verwirklichung
dieses Princips in seinen beiden großen Romanen, den "Rittern vom Geiste"
und dem "Zauberer von Rom" sehr nahe gekommen ist, dort auf politisch¬
socialem, hier auf kirchlich-religiösem Gebiet. Ich benutze die Gelegenheit, um
hier öffentlich den Wunsch auszusprechen, daß uns eine ebenso billige und
sorgfältig überarbeitete neue Ausgabe, wie die oben erwähnte der "Ritter vom
Geiste", auch von dem "Zauberer von Rom" geboten werde. Der Stoff des
letzteren wird gegenwärtig praktisch wichtig und interessant. Man kann sagen, daß
Gutzkow mit dem einen Roman ebensogut kirchliche Erscheinungen des Jahres
1870 anticipirt hat, wie mit dem anderen politische des Jahres 1866. Die¬
ses gleichsam divinatorische Vorgreifen beweist, wie enge es mit den Strömun¬
gen der Gegenwart, namentlich mit den tiefer gehenden, zusammenhängt.

Albert Oppermann nun hat Letzteres mit ihm gemein. Auch ihm ist
der Wogenschlag der Zeit stets mitten durch das nun gebrochene Herz ge¬
gangen. Aber er hat eine Eigenthümlichkeit, welche das ersetzt, was ihm an
dichterischer Gestaltungskraft und Universalität abgeht. Bei Oppermann ist
die Beschränkung das, was ihn groß macht. Er ist der ächte Sohn der
niedersächsischen Erde, und durch tausend Jahre mit ihr verbunden. Es ist
vor Allem sein niedersächsischer Volksstamm, sein Kurstaat Hannover (der
später unter der prätentiösen Flagge des "Königreiches" dem Ende aller
Dinge, d. h. dem Untergange, zusteuerte), seine Vaterstadt Göttingen und
die Nachbarstadt Kassel, seine Adoptivstadt Nienburg, und die hannoversche
Grafschaft Hoya, wo er zu Hause ist; zu Hause nicht nur in der Gegen¬
wart, sondern auch in der Vergangenheit der letzten 3--4 Generationen. Ur¬
sprünglich wollte er, wie er mir in den letzten Tagen seines Lebens anver-


GrenzVoten i. 1871. S

endlos aufeinander folgenden Bildern und Scenen. „Das ist der Roman
des Nacheinander", sagte Karl Gutzkow (ob ich wörtlich richtig citire,
weiß ich nicht, aber für richtige Wiedergabe des Sinnes stehe ich ein), „das
sind die chronologisch an einander gereihten Scenen mit ihrer klassischen Un-
glaubwürdigkeit, diese herrlichen, farbenreichen Gebilde, — aber doch nur
Gebilde des Falschen, Unmöglichen, willkührlich Vorausgesetzten; ich biete
Euch statt dessen einen Roman, nicht minder reich an Scenen und Bildern,
aber es ist der Roman des Nebeneinander, der die Zwischenglieder zwischen
den entscheidenden Momenten nicht mechanisch, sondern organisch ausfüllt;
so daß die Willkühr der Erfindung durch den lebendigen Organismus des Gan¬
zen ersetzt wird; Ihr werdet nicht mehr einen einzelnen Abschnitt des Lebens,
Ihr werdet den ganzen Kreis der modernen Weltanschauung mit einem
Schlage überblicken."

Man kann wohl darüber streiten, ob das Princip Gutzkow's künstlerisch
richtig ist. Das wird man aber zugeben müssen, daß er der Verwirklichung
dieses Princips in seinen beiden großen Romanen, den „Rittern vom Geiste"
und dem „Zauberer von Rom" sehr nahe gekommen ist, dort auf politisch¬
socialem, hier auf kirchlich-religiösem Gebiet. Ich benutze die Gelegenheit, um
hier öffentlich den Wunsch auszusprechen, daß uns eine ebenso billige und
sorgfältig überarbeitete neue Ausgabe, wie die oben erwähnte der „Ritter vom
Geiste", auch von dem „Zauberer von Rom" geboten werde. Der Stoff des
letzteren wird gegenwärtig praktisch wichtig und interessant. Man kann sagen, daß
Gutzkow mit dem einen Roman ebensogut kirchliche Erscheinungen des Jahres
1870 anticipirt hat, wie mit dem anderen politische des Jahres 1866. Die¬
ses gleichsam divinatorische Vorgreifen beweist, wie enge es mit den Strömun¬
gen der Gegenwart, namentlich mit den tiefer gehenden, zusammenhängt.

Albert Oppermann nun hat Letzteres mit ihm gemein. Auch ihm ist
der Wogenschlag der Zeit stets mitten durch das nun gebrochene Herz ge¬
gangen. Aber er hat eine Eigenthümlichkeit, welche das ersetzt, was ihm an
dichterischer Gestaltungskraft und Universalität abgeht. Bei Oppermann ist
die Beschränkung das, was ihn groß macht. Er ist der ächte Sohn der
niedersächsischen Erde, und durch tausend Jahre mit ihr verbunden. Es ist
vor Allem sein niedersächsischer Volksstamm, sein Kurstaat Hannover (der
später unter der prätentiösen Flagge des „Königreiches" dem Ende aller
Dinge, d. h. dem Untergange, zusteuerte), seine Vaterstadt Göttingen und
die Nachbarstadt Kassel, seine Adoptivstadt Nienburg, und die hannoversche
Grafschaft Hoya, wo er zu Hause ist; zu Hause nicht nur in der Gegen¬
wart, sondern auch in der Vergangenheit der letzten 3—4 Generationen. Ur¬
sprünglich wollte er, wie er mir in den letzten Tagen seines Lebens anver-


GrenzVoten i. 1871. S
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/65>, abgerufen am 28.09.2024.