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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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zu Tage, ohne sich schämen zu müssen -- Gott sei Dank! -- frank und frei
gestehen, daß er weder das eine noch das andere dieser unsterblichen Werke
gelesen hat. Vor 25 Jahren war das anders. Da war, bevor ihm die Ge¬
heimnisse von Paris den Rang abliefen, der Graf von Monte Christo in
Jedermanns, und noch mehr in jeder Frau Händen. Jeder "Gebildete" (und
Verbildete) mußte ihn gelesen haben. Man übersetzte ihn um die Wette.
Eine Uebersetzung abscheulicher, als die andere. Vor Allem: kleiner Druck,
stumpfe Lettern, graues Papier. Die deutsche Jugend opferte das Licht ihrer
Augen, um diesen Chimborasso von Zweideutigkeiten, Nachtseiten, Geschmack¬
losigkeiten, Tollheiten, UnWahrscheinlichkeiten, Unmöglichkeiten zu verschlingen.
Auch fiel es keinem guten Deutschen damals auf, daß dieser französische Roman
ganz endlosi^lang sei. In Frankreich war man dahinter gekommen. Es
hatte nämlich damals eine französische Birch-Pfeiffer den "Grafen von Monte
Christo" dramatisirt. Das Stück spielte fünf Abende hinter einander. Der
Pariser Charivari, der damals so recht in seiner Blüthe stand, brachte zwei
Bilder, das Eine: "Wie Einer in den Grafen von Monte Christo hinein
geht", das Andere: "Wie derselbe wieder herauskommt." Jener war ein
junger I'aut^Ä yuatre ^pin^Jos. lockenduftend, leichtfüßig, das Monocle im
Auge, den Hut auf dem linken Ohr. Dieser war ein schlotteriger, kahl-
häuptiger, schwerfüßiger Alter, der in Pelz gehüllt sich am Stäbe nach Haus
schleppt. In Deutschland dagegen erinnere ich mich wohl einer Anzahl von
Conversationen über den Grafen von "Monte Christo", aber ich glaube nie
die Bemerkung gehört zu haben, daß er zu lang sei.

Ich bin in der Chronologie der Romane nicht sattelfest, führe auch über
dergleichen nicht Buch, sondern schreibe aus dem Gedächtniß. Ich glaube
jedoch, der erste deutsche Roman von ansehnlicher Leibeslänge waren die neun¬
bändigen "Ritter vom Geist" von Karl Gutzkow. Die Länge des "Grafen
von Monte Christo" hatte man, weil sie französischen Ursprungs war, ohne
Murren entgegen genommen. Von den 9 Bänden der deutschen "Ritter vom
Geiste" (die übrigens in der neuesten, sorgfältig überarbeiteten fünften Auf¬
lage -- Berlin, Janke, 1870 -- auf 4 zusammen geschmolzen sind) murrte
man; und der Dichter des Romans, der sein Publicum kennt, hatte sich
vorgesehen. In der Vorrede nämlich erläuterte er sein Princip. Er nannte
seine neue künstlerische Form den "Roman des Nebeneinander." Er
setzte sich in bewußtem Gegensatz zu den französischen Romanen von Eugen
Sue und Alexander Dumas Vater, -- zu dem "Grafen von Monte Christo",
den "Geheimnissen von Paris" und dem "ewigen Juden", -- zu jenen Feuil¬
leton-Bandwürmern, die bruchstückweise, täglich ein Fragment, abgehen
und sich ewig erneuern, indem sie irgend ein spannendes oder das Ohr rei¬
zendes Moment hinterlassen, welches den Uebergang vermittelt zwischen den


zu Tage, ohne sich schämen zu müssen — Gott sei Dank! — frank und frei
gestehen, daß er weder das eine noch das andere dieser unsterblichen Werke
gelesen hat. Vor 25 Jahren war das anders. Da war, bevor ihm die Ge¬
heimnisse von Paris den Rang abliefen, der Graf von Monte Christo in
Jedermanns, und noch mehr in jeder Frau Händen. Jeder „Gebildete" (und
Verbildete) mußte ihn gelesen haben. Man übersetzte ihn um die Wette.
Eine Uebersetzung abscheulicher, als die andere. Vor Allem: kleiner Druck,
stumpfe Lettern, graues Papier. Die deutsche Jugend opferte das Licht ihrer
Augen, um diesen Chimborasso von Zweideutigkeiten, Nachtseiten, Geschmack¬
losigkeiten, Tollheiten, UnWahrscheinlichkeiten, Unmöglichkeiten zu verschlingen.
Auch fiel es keinem guten Deutschen damals auf, daß dieser französische Roman
ganz endlosi^lang sei. In Frankreich war man dahinter gekommen. Es
hatte nämlich damals eine französische Birch-Pfeiffer den „Grafen von Monte
Christo" dramatisirt. Das Stück spielte fünf Abende hinter einander. Der
Pariser Charivari, der damals so recht in seiner Blüthe stand, brachte zwei
Bilder, das Eine: „Wie Einer in den Grafen von Monte Christo hinein
geht", das Andere: „Wie derselbe wieder herauskommt." Jener war ein
junger I'aut^Ä yuatre ^pin^Jos. lockenduftend, leichtfüßig, das Monocle im
Auge, den Hut auf dem linken Ohr. Dieser war ein schlotteriger, kahl-
häuptiger, schwerfüßiger Alter, der in Pelz gehüllt sich am Stäbe nach Haus
schleppt. In Deutschland dagegen erinnere ich mich wohl einer Anzahl von
Conversationen über den Grafen von „Monte Christo", aber ich glaube nie
die Bemerkung gehört zu haben, daß er zu lang sei.

Ich bin in der Chronologie der Romane nicht sattelfest, führe auch über
dergleichen nicht Buch, sondern schreibe aus dem Gedächtniß. Ich glaube
jedoch, der erste deutsche Roman von ansehnlicher Leibeslänge waren die neun¬
bändigen „Ritter vom Geist" von Karl Gutzkow. Die Länge des „Grafen
von Monte Christo" hatte man, weil sie französischen Ursprungs war, ohne
Murren entgegen genommen. Von den 9 Bänden der deutschen „Ritter vom
Geiste" (die übrigens in der neuesten, sorgfältig überarbeiteten fünften Auf¬
lage — Berlin, Janke, 1870 — auf 4 zusammen geschmolzen sind) murrte
man; und der Dichter des Romans, der sein Publicum kennt, hatte sich
vorgesehen. In der Vorrede nämlich erläuterte er sein Princip. Er nannte
seine neue künstlerische Form den „Roman des Nebeneinander." Er
setzte sich in bewußtem Gegensatz zu den französischen Romanen von Eugen
Sue und Alexander Dumas Vater, — zu dem „Grafen von Monte Christo",
den „Geheimnissen von Paris" und dem „ewigen Juden", — zu jenen Feuil¬
leton-Bandwürmern, die bruchstückweise, täglich ein Fragment, abgehen
und sich ewig erneuern, indem sie irgend ein spannendes oder das Ohr rei¬
zendes Moment hinterlassen, welches den Uebergang vermittelt zwischen den


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/64>, abgerufen am 29.06.2024.