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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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rentes Auftreten im letzten Reichstag bei vielen Wählern, selbst hier in
Berlin, am sichersten Standorte der Partei, unangenehmen Eindruck hinter¬
lassen hat. Ist ja doch der hohe Grad von unpolitischen Verhalten, welcher
darin lag, den bayrischen Vertrag ablehnen zu wollen, auch dem blödesten
Auge klar, jetzt, nachdem die Mehrheit der zweiten Kammer in München sich
so sehr zweideutig zu den Vereinbarungen von Versailles gestellt hat. So
sucht denn die Fortschrittspartei jene im öffentlichen Bewußtsein erlittene
eaxitis Zeminutio jetzt dadurch zu repariren, daß sie theils mit dem Abge¬
ordneten Löwe in der Sitzung vom 21. Dec. sich bereit erklärt hat, die ein¬
zelnen Etatsposten zu bewilligen, auch ohne daß ihren Ansprüchen Genüge
geleistet wird, theils durch den Abgeordneten Richter für die allgemein ge¬
wünschte Abschaffung der Zeitungssteuer sich ausdrücklich erklärte. Freilich
hat sich die Thätigkeit des preußischen Landtages bis jetzt nur in wenigen
Plenarsitzungen geäußert. Nach der Eröffnung am 14. December fand am
16. December die Wiederwahl des bisherigen Bureaus statt, wobei die aus¬
nahmslose Einstimmigkeit mit der Forckenbeck auf den Präsidentenstuhl er¬
hoben wurde, überraschte. Der Finanzminister überreichte an demselben Tage
das trotz des Krieges ohne Deficit, vielmehr mit namhaften Ueberschüssen
abschließende Budget in der Höhe von 178 Millionen, und andere staats-
wirthschaftliche Gesetze, namentlich ein Jndemnitätsgesuch für die unter v. d.
Heydt zu anderen als den gesetzlich bewilligten Zwecken verausgabten Summen
der preußischen Eisenbahnanleihe von 1867. Nachdem die Commissionen sich
mit ihren Anstrengungen möglichst beeilt, fand am 21. Dec. die erste Budget¬
debatte statt. Die allgemeinen Ausgaben für Kronfideieommiß und Landtag,
sowie der Etat des Staatsministeriums und der Ministerien für Handel,
Justiz und Landwirthschaft wurden bewilligt, nachdem in der Generaldebatte
Herr Camphausen sich bereit erklärt, nach Eintritt friedlicher Zustände die
Mängel unserer Finanzverfassung zu beseitigen, "welche uns das Unglück
erkennen gelehrt", und in der Specialdiscussion Herr Leonhardt unter Heiter¬
keit des Hauses auf einige'ihm hingeworfene Fragen befriedigende Aufschlüsse ge¬
geben. Mit Erstaunen bemerkte man die Ungenirtheit, mit welcher beide
Minister über ihre Vorgänger sich äußerten; das war gar nicht bureaukratisch!
Wie gesagt, es tritt allmählich, aber doch endlich, der büreaukratische Sinn"
in unserem Staatsgeist immer weiter zurück. Wie auffallend war z. B., daß
nicht Herr von Muster, sondern Eulenburg den Landtag auf speciellen Aller¬
höchsten Befehl eröffnet hat! Nach den bisher geltenden Satzungen mußte
in Abwesenheit des Ministerpräsidenten und des der Anciennetät nach ersten
Ministers von Roon, Herr von Muster als der Zweitälteste Ressortminister
dieser Ehre theilhaftig werden! Ausdrücklich ist der Herr übergangen worden,
und mehr als einen Schluß hat hieraus die öffentliche Meinung unserer Re-


rentes Auftreten im letzten Reichstag bei vielen Wählern, selbst hier in
Berlin, am sichersten Standorte der Partei, unangenehmen Eindruck hinter¬
lassen hat. Ist ja doch der hohe Grad von unpolitischen Verhalten, welcher
darin lag, den bayrischen Vertrag ablehnen zu wollen, auch dem blödesten
Auge klar, jetzt, nachdem die Mehrheit der zweiten Kammer in München sich
so sehr zweideutig zu den Vereinbarungen von Versailles gestellt hat. So
sucht denn die Fortschrittspartei jene im öffentlichen Bewußtsein erlittene
eaxitis Zeminutio jetzt dadurch zu repariren, daß sie theils mit dem Abge¬
ordneten Löwe in der Sitzung vom 21. Dec. sich bereit erklärt hat, die ein¬
zelnen Etatsposten zu bewilligen, auch ohne daß ihren Ansprüchen Genüge
geleistet wird, theils durch den Abgeordneten Richter für die allgemein ge¬
wünschte Abschaffung der Zeitungssteuer sich ausdrücklich erklärte. Freilich
hat sich die Thätigkeit des preußischen Landtages bis jetzt nur in wenigen
Plenarsitzungen geäußert. Nach der Eröffnung am 14. December fand am
16. December die Wiederwahl des bisherigen Bureaus statt, wobei die aus¬
nahmslose Einstimmigkeit mit der Forckenbeck auf den Präsidentenstuhl er¬
hoben wurde, überraschte. Der Finanzminister überreichte an demselben Tage
das trotz des Krieges ohne Deficit, vielmehr mit namhaften Ueberschüssen
abschließende Budget in der Höhe von 178 Millionen, und andere staats-
wirthschaftliche Gesetze, namentlich ein Jndemnitätsgesuch für die unter v. d.
Heydt zu anderen als den gesetzlich bewilligten Zwecken verausgabten Summen
der preußischen Eisenbahnanleihe von 1867. Nachdem die Commissionen sich
mit ihren Anstrengungen möglichst beeilt, fand am 21. Dec. die erste Budget¬
debatte statt. Die allgemeinen Ausgaben für Kronfideieommiß und Landtag,
sowie der Etat des Staatsministeriums und der Ministerien für Handel,
Justiz und Landwirthschaft wurden bewilligt, nachdem in der Generaldebatte
Herr Camphausen sich bereit erklärt, nach Eintritt friedlicher Zustände die
Mängel unserer Finanzverfassung zu beseitigen, „welche uns das Unglück
erkennen gelehrt", und in der Specialdiscussion Herr Leonhardt unter Heiter¬
keit des Hauses auf einige'ihm hingeworfene Fragen befriedigende Aufschlüsse ge¬
geben. Mit Erstaunen bemerkte man die Ungenirtheit, mit welcher beide
Minister über ihre Vorgänger sich äußerten; das war gar nicht bureaukratisch!
Wie gesagt, es tritt allmählich, aber doch endlich, der büreaukratische Sinn«
in unserem Staatsgeist immer weiter zurück. Wie auffallend war z. B., daß
nicht Herr von Muster, sondern Eulenburg den Landtag auf speciellen Aller¬
höchsten Befehl eröffnet hat! Nach den bisher geltenden Satzungen mußte
in Abwesenheit des Ministerpräsidenten und des der Anciennetät nach ersten
Ministers von Roon, Herr von Muster als der Zweitälteste Ressortminister
dieser Ehre theilhaftig werden! Ausdrücklich ist der Herr übergangen worden,
und mehr als einen Schluß hat hieraus die öffentliche Meinung unserer Re-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/61>, abgerufen am 29.06.2024.