Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

keineswegs. Alle Fremden, die im Laufe der letzten Wochen die Hauptstadt
berührten, wunderten sich, daß die Kaiserproclamirung und die Bündniß-
verträge zur deutschen Verfassung von der Stadt, die aus diesen Neugestal¬
tungen den größten Bortheil zieht, kühl bis ans Herz hinan aufgenommen
wurde. Freilich, Berlin ist fortschrittlich und die Blätter sowie die Abgeord¬
neten der Fortschrittspartei hatten sich ja gegen das neue Reich in seiner
jetzigen Form ausgesprochen. Und der Berliner läßt sich wohl von seiner
Zeitung oder von den "Männern des Volks" imponiren, aber niemals von
der Regierung.

Das ist aber nicht schlimm gemeint. Wie sehr die radicalen Strömungen
in Berlin zurückgewichen sind, erkennt man daraus, daß in demjenigen Wahl¬
kreise Berlins, der bisher als der politisch "vorgeschrittenste" galt, an Stelle
des zur Wiederwahl vorgeschlagenen Jacoby ein angestellter Prediger in den
preußischen Landtag gewählt werden konnte, ein Diener des Worts an Stelle
eines spinozistischen Socialisten. Wer weiß aber, ob es so gekommen wäre,
wenn Jacoby's unfreiwilliges Martyrium in Lötzen fortgedauert hätte. Der
Berliner ist der beste Mensch von der Welt, auch gegen die Regierung, wenn
er nur durch deren Eingreifen nicht "unnütze Beseitigung" erfährt. Der Ber¬
liner will nicht, wie der Pariser, mit eiserner Faust im Sammethandschuh
angefaßt sein, sondern er will sich gar nicht anfassen lassen, und je mehr un¬
sere Regierung diesen Zug des norddeutschen Wesens anerkennt, dadurch, daß
sie die bureaukratischen Regeln der Bevormundung immer mehr in den Hin¬
tergrund treten läßt, desto weniger wird sie den Radicalismus zu fürchten
haben, der nur als Correlat zu der gleichfalls importirten Centralisation aus
Frankreich eingeführt war. Diesem Kriege wird es vor allem zu danken sein,
wenn von Berlin aus und in Berlin das deutsche Leben anfangen wird, sich
seine eigenen Bahnen zu brechen.

Wie sehr erfreulich im Allgemeinen unser Parteileben sich schon jetzt
unter den kriegerischen Eindrücken gestaltet hat, zeigte auch die bisherige
Stimmung des Abgeordnetenhauses. Die Socialdemokraten und ihr eigen¬
thümlicher Genosse im Neinsagen, Herr Ewald, die bei dem Gesetz über die
neue Hundertmillionenanleihe und bei der endgiltigen Entscheidung über die
deutsche Verfassung durch ihre acht Stimmen den Einklang der anderen par¬
lamentarischen Fractionen störten, fehlen im preußischen Abgeordnetenhause.
Die Fortschrittspartei aber, welche mit ihren zweiunddreißig Voden sich im
Norddeutschen Reichstag gegen die Genehmigung des norddeutsch-bayri¬
schen Verfassungsvertrages erklärt hatte, scheint innerhalb der Repräsen¬
tation des preußischen Staates eine gewisse Mäßigung beobachten zu wollen.
Natürlich, wegen den bevorstehenden Reichstagswahlen; denn die alten Par¬
lamentarier haben hinreichende Nerven für die Wahrnehmung, daß ihr regi-


keineswegs. Alle Fremden, die im Laufe der letzten Wochen die Hauptstadt
berührten, wunderten sich, daß die Kaiserproclamirung und die Bündniß-
verträge zur deutschen Verfassung von der Stadt, die aus diesen Neugestal¬
tungen den größten Bortheil zieht, kühl bis ans Herz hinan aufgenommen
wurde. Freilich, Berlin ist fortschrittlich und die Blätter sowie die Abgeord¬
neten der Fortschrittspartei hatten sich ja gegen das neue Reich in seiner
jetzigen Form ausgesprochen. Und der Berliner läßt sich wohl von seiner
Zeitung oder von den „Männern des Volks" imponiren, aber niemals von
der Regierung.

Das ist aber nicht schlimm gemeint. Wie sehr die radicalen Strömungen
in Berlin zurückgewichen sind, erkennt man daraus, daß in demjenigen Wahl¬
kreise Berlins, der bisher als der politisch „vorgeschrittenste" galt, an Stelle
des zur Wiederwahl vorgeschlagenen Jacoby ein angestellter Prediger in den
preußischen Landtag gewählt werden konnte, ein Diener des Worts an Stelle
eines spinozistischen Socialisten. Wer weiß aber, ob es so gekommen wäre,
wenn Jacoby's unfreiwilliges Martyrium in Lötzen fortgedauert hätte. Der
Berliner ist der beste Mensch von der Welt, auch gegen die Regierung, wenn
er nur durch deren Eingreifen nicht „unnütze Beseitigung" erfährt. Der Ber¬
liner will nicht, wie der Pariser, mit eiserner Faust im Sammethandschuh
angefaßt sein, sondern er will sich gar nicht anfassen lassen, und je mehr un¬
sere Regierung diesen Zug des norddeutschen Wesens anerkennt, dadurch, daß
sie die bureaukratischen Regeln der Bevormundung immer mehr in den Hin¬
tergrund treten läßt, desto weniger wird sie den Radicalismus zu fürchten
haben, der nur als Correlat zu der gleichfalls importirten Centralisation aus
Frankreich eingeführt war. Diesem Kriege wird es vor allem zu danken sein,
wenn von Berlin aus und in Berlin das deutsche Leben anfangen wird, sich
seine eigenen Bahnen zu brechen.

Wie sehr erfreulich im Allgemeinen unser Parteileben sich schon jetzt
unter den kriegerischen Eindrücken gestaltet hat, zeigte auch die bisherige
Stimmung des Abgeordnetenhauses. Die Socialdemokraten und ihr eigen¬
thümlicher Genosse im Neinsagen, Herr Ewald, die bei dem Gesetz über die
neue Hundertmillionenanleihe und bei der endgiltigen Entscheidung über die
deutsche Verfassung durch ihre acht Stimmen den Einklang der anderen par¬
lamentarischen Fractionen störten, fehlen im preußischen Abgeordnetenhause.
Die Fortschrittspartei aber, welche mit ihren zweiunddreißig Voden sich im
Norddeutschen Reichstag gegen die Genehmigung des norddeutsch-bayri¬
schen Verfassungsvertrages erklärt hatte, scheint innerhalb der Repräsen¬
tation des preußischen Staates eine gewisse Mäßigung beobachten zu wollen.
Natürlich, wegen den bevorstehenden Reichstagswahlen; denn die alten Par¬
lamentarier haben hinreichende Nerven für die Wahrnehmung, daß ihr regi-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0060" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/125304"/>
          <p xml:id="ID_220" prev="#ID_219"> keineswegs. Alle Fremden, die im Laufe der letzten Wochen die Hauptstadt<lb/>
berührten, wunderten sich, daß die Kaiserproclamirung und die Bündniß-<lb/>
verträge zur deutschen Verfassung von der Stadt, die aus diesen Neugestal¬<lb/>
tungen den größten Bortheil zieht, kühl bis ans Herz hinan aufgenommen<lb/>
wurde. Freilich, Berlin ist fortschrittlich und die Blätter sowie die Abgeord¬<lb/>
neten der Fortschrittspartei hatten sich ja gegen das neue Reich in seiner<lb/>
jetzigen Form ausgesprochen. Und der Berliner läßt sich wohl von seiner<lb/>
Zeitung oder von den &#x201E;Männern des Volks" imponiren, aber niemals von<lb/>
der Regierung.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_221"> Das ist aber nicht schlimm gemeint. Wie sehr die radicalen Strömungen<lb/>
in Berlin zurückgewichen sind, erkennt man daraus, daß in demjenigen Wahl¬<lb/>
kreise Berlins, der bisher als der politisch &#x201E;vorgeschrittenste" galt, an Stelle<lb/>
des zur Wiederwahl vorgeschlagenen Jacoby ein angestellter Prediger in den<lb/>
preußischen Landtag gewählt werden konnte, ein Diener des Worts an Stelle<lb/>
eines spinozistischen Socialisten. Wer weiß aber, ob es so gekommen wäre,<lb/>
wenn Jacoby's unfreiwilliges Martyrium in Lötzen fortgedauert hätte. Der<lb/>
Berliner ist der beste Mensch von der Welt, auch gegen die Regierung, wenn<lb/>
er nur durch deren Eingreifen nicht &#x201E;unnütze Beseitigung" erfährt. Der Ber¬<lb/>
liner will nicht, wie der Pariser, mit eiserner Faust im Sammethandschuh<lb/>
angefaßt sein, sondern er will sich gar nicht anfassen lassen, und je mehr un¬<lb/>
sere Regierung diesen Zug des norddeutschen Wesens anerkennt, dadurch, daß<lb/>
sie die bureaukratischen Regeln der Bevormundung immer mehr in den Hin¬<lb/>
tergrund treten läßt, desto weniger wird sie den Radicalismus zu fürchten<lb/>
haben, der nur als Correlat zu der gleichfalls importirten Centralisation aus<lb/>
Frankreich eingeführt war. Diesem Kriege wird es vor allem zu danken sein,<lb/>
wenn von Berlin aus und in Berlin das deutsche Leben anfangen wird, sich<lb/>
seine eigenen Bahnen zu brechen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_222" next="#ID_223"> Wie sehr erfreulich im Allgemeinen unser Parteileben sich schon jetzt<lb/>
unter den kriegerischen Eindrücken gestaltet hat, zeigte auch die bisherige<lb/>
Stimmung des Abgeordnetenhauses. Die Socialdemokraten und ihr eigen¬<lb/>
thümlicher Genosse im Neinsagen, Herr Ewald, die bei dem Gesetz über die<lb/>
neue Hundertmillionenanleihe und bei der endgiltigen Entscheidung über die<lb/>
deutsche Verfassung durch ihre acht Stimmen den Einklang der anderen par¬<lb/>
lamentarischen Fractionen störten, fehlen im preußischen Abgeordnetenhause.<lb/>
Die Fortschrittspartei aber, welche mit ihren zweiunddreißig Voden sich im<lb/>
Norddeutschen Reichstag gegen die Genehmigung des norddeutsch-bayri¬<lb/>
schen Verfassungsvertrages erklärt hatte, scheint innerhalb der Repräsen¬<lb/>
tation des preußischen Staates eine gewisse Mäßigung beobachten zu wollen.<lb/>
Natürlich, wegen den bevorstehenden Reichstagswahlen; denn die alten Par¬<lb/>
lamentarier haben hinreichende Nerven für die Wahrnehmung, daß ihr regi-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0060] keineswegs. Alle Fremden, die im Laufe der letzten Wochen die Hauptstadt berührten, wunderten sich, daß die Kaiserproclamirung und die Bündniß- verträge zur deutschen Verfassung von der Stadt, die aus diesen Neugestal¬ tungen den größten Bortheil zieht, kühl bis ans Herz hinan aufgenommen wurde. Freilich, Berlin ist fortschrittlich und die Blätter sowie die Abgeord¬ neten der Fortschrittspartei hatten sich ja gegen das neue Reich in seiner jetzigen Form ausgesprochen. Und der Berliner läßt sich wohl von seiner Zeitung oder von den „Männern des Volks" imponiren, aber niemals von der Regierung. Das ist aber nicht schlimm gemeint. Wie sehr die radicalen Strömungen in Berlin zurückgewichen sind, erkennt man daraus, daß in demjenigen Wahl¬ kreise Berlins, der bisher als der politisch „vorgeschrittenste" galt, an Stelle des zur Wiederwahl vorgeschlagenen Jacoby ein angestellter Prediger in den preußischen Landtag gewählt werden konnte, ein Diener des Worts an Stelle eines spinozistischen Socialisten. Wer weiß aber, ob es so gekommen wäre, wenn Jacoby's unfreiwilliges Martyrium in Lötzen fortgedauert hätte. Der Berliner ist der beste Mensch von der Welt, auch gegen die Regierung, wenn er nur durch deren Eingreifen nicht „unnütze Beseitigung" erfährt. Der Ber¬ liner will nicht, wie der Pariser, mit eiserner Faust im Sammethandschuh angefaßt sein, sondern er will sich gar nicht anfassen lassen, und je mehr un¬ sere Regierung diesen Zug des norddeutschen Wesens anerkennt, dadurch, daß sie die bureaukratischen Regeln der Bevormundung immer mehr in den Hin¬ tergrund treten läßt, desto weniger wird sie den Radicalismus zu fürchten haben, der nur als Correlat zu der gleichfalls importirten Centralisation aus Frankreich eingeführt war. Diesem Kriege wird es vor allem zu danken sein, wenn von Berlin aus und in Berlin das deutsche Leben anfangen wird, sich seine eigenen Bahnen zu brechen. Wie sehr erfreulich im Allgemeinen unser Parteileben sich schon jetzt unter den kriegerischen Eindrücken gestaltet hat, zeigte auch die bisherige Stimmung des Abgeordnetenhauses. Die Socialdemokraten und ihr eigen¬ thümlicher Genosse im Neinsagen, Herr Ewald, die bei dem Gesetz über die neue Hundertmillionenanleihe und bei der endgiltigen Entscheidung über die deutsche Verfassung durch ihre acht Stimmen den Einklang der anderen par¬ lamentarischen Fractionen störten, fehlen im preußischen Abgeordnetenhause. Die Fortschrittspartei aber, welche mit ihren zweiunddreißig Voden sich im Norddeutschen Reichstag gegen die Genehmigung des norddeutsch-bayri¬ schen Verfassungsvertrages erklärt hatte, scheint innerhalb der Repräsen¬ tation des preußischen Staates eine gewisse Mäßigung beobachten zu wollen. Natürlich, wegen den bevorstehenden Reichstagswahlen; denn die alten Par¬ lamentarier haben hinreichende Nerven für die Wahrnehmung, daß ihr regi-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/60
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/60>, abgerufen am 29.06.2024.