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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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sidenz ziehen wollen, welche durch verschiedene Vorkommnisse letzter Zeit, wie
namentlich durch dem Joachim'schen Fall, stark gegen den Cultusminister ein¬
genommen ist.

Ob in Wahrheit in jenem Uebergehen (welches, wenn es einem Offizier
widerführe, herkömmlich zur Folge haben müßte, daß die betreffende Persön¬
lichkeit um ihren Abschied nachsucht) die Schatten künftiger Ereignisse zu sehen
sind, muß die nächste Erfahrung lehren. Der Etat des Unterrichtsministeriums
ist noch nicht zur Berathung gekommen, und man ist gespannt auf den Aus¬
gang der betreffenden Debatten, die wohl die interessantesten der Session sein
werden. Bei der eigenthümlichen Coincidenz der im Landtag sitzenden und
für den Reichstag zu wählenden Persönlichkeiten läßt sich erwarten, daß
mancher Landbote, der Vertreter des deutschen Volks werden will, im Ringel¬
stechen nach dem Muster'schen Mohrenkopf den Preis zu gewinnen suchen
wird. Wer aber bei uns Deputirter ist, möchte es meist gern für immer
und in jedem Falle bleiben, lieber als die Abgeordneten in einem andern
Lande. Es liegt einmal im Charakterzug unseres Volkes, daß jede, auch nur
mit einer gewissen Dauer ausgeübte öffentliche Thätigkeit sofort als Amt
aufgefaßt wird. Bei Aemtern aber soll nach kerndeutscher Auffassung Im¬
mobilität bestehen oder von den Beamten zu erreichen gesucht werden.
Viel Gutes und viel Schattenseiten unsrer öffentlichen Dinge hängen mit dieser
Vorstellung zusammen.

Uebrigens ist im gegenwärtigen preußischen Landtage wohl die Hälfte der
Mitglieder neu gewählt, namentlich die katholische Fraction, welche bis in die
Conflictszeit hinein im Landtage geblüht hatte und dann auf einmal ver¬
schwunden war, ist -- Dank der Anstrengungen unserer Ultramontanen --
mit neun Namen wieder ausgelebt. Was dieselbe in einem Staat will, der
seinen Katholiken ein größeres Maß von rechtlicher und factischer Freiheit ge¬
währt, als seinen Protestanten, ist nicht recht klar; es müßte denn die katho¬
lische Demokratie sein, welche der geistliche Rath Müller als das Ziel
des deutschen Ultramontanismus neuerdings in einer Versammlung seiner
Berliner Getreuen aufgestellt hat. Das scheint aber auch nicht der Fall zu
sein, denn Herr Müller selbst ist nicht gewählt, und ein großer Theil der¬
jenigen Abgeordneten, welche in katholischen Wahlkreisen des Rheinlands ge¬
wählt sind, hat sich im Gegentheil der freiconservativen Richtung ange¬
schlossen. Diese Fraction, welche von der officiellen Wahlstatistik auf nur
36 Mitglieder angesetzt war, hat durch Zutritt verschiedener Neugewählter die
Zahl von 69 Mitgliedern erreicht. Unter den Neuzugctretenen befindet sich
auch der aus dem Reichstag bekannte Friedenthal, einer der im Oetober
nach Versailles berufenen "Parlamentsulanen", und der Anführer der Grund¬
besitzerpartei, Herr Elsner von Gronow. Ob für den neuen Reichstag eine


sidenz ziehen wollen, welche durch verschiedene Vorkommnisse letzter Zeit, wie
namentlich durch dem Joachim'schen Fall, stark gegen den Cultusminister ein¬
genommen ist.

Ob in Wahrheit in jenem Uebergehen (welches, wenn es einem Offizier
widerführe, herkömmlich zur Folge haben müßte, daß die betreffende Persön¬
lichkeit um ihren Abschied nachsucht) die Schatten künftiger Ereignisse zu sehen
sind, muß die nächste Erfahrung lehren. Der Etat des Unterrichtsministeriums
ist noch nicht zur Berathung gekommen, und man ist gespannt auf den Aus¬
gang der betreffenden Debatten, die wohl die interessantesten der Session sein
werden. Bei der eigenthümlichen Coincidenz der im Landtag sitzenden und
für den Reichstag zu wählenden Persönlichkeiten läßt sich erwarten, daß
mancher Landbote, der Vertreter des deutschen Volks werden will, im Ringel¬
stechen nach dem Muster'schen Mohrenkopf den Preis zu gewinnen suchen
wird. Wer aber bei uns Deputirter ist, möchte es meist gern für immer
und in jedem Falle bleiben, lieber als die Abgeordneten in einem andern
Lande. Es liegt einmal im Charakterzug unseres Volkes, daß jede, auch nur
mit einer gewissen Dauer ausgeübte öffentliche Thätigkeit sofort als Amt
aufgefaßt wird. Bei Aemtern aber soll nach kerndeutscher Auffassung Im¬
mobilität bestehen oder von den Beamten zu erreichen gesucht werden.
Viel Gutes und viel Schattenseiten unsrer öffentlichen Dinge hängen mit dieser
Vorstellung zusammen.

Uebrigens ist im gegenwärtigen preußischen Landtage wohl die Hälfte der
Mitglieder neu gewählt, namentlich die katholische Fraction, welche bis in die
Conflictszeit hinein im Landtage geblüht hatte und dann auf einmal ver¬
schwunden war, ist — Dank der Anstrengungen unserer Ultramontanen —
mit neun Namen wieder ausgelebt. Was dieselbe in einem Staat will, der
seinen Katholiken ein größeres Maß von rechtlicher und factischer Freiheit ge¬
währt, als seinen Protestanten, ist nicht recht klar; es müßte denn die katho¬
lische Demokratie sein, welche der geistliche Rath Müller als das Ziel
des deutschen Ultramontanismus neuerdings in einer Versammlung seiner
Berliner Getreuen aufgestellt hat. Das scheint aber auch nicht der Fall zu
sein, denn Herr Müller selbst ist nicht gewählt, und ein großer Theil der¬
jenigen Abgeordneten, welche in katholischen Wahlkreisen des Rheinlands ge¬
wählt sind, hat sich im Gegentheil der freiconservativen Richtung ange¬
schlossen. Diese Fraction, welche von der officiellen Wahlstatistik auf nur
36 Mitglieder angesetzt war, hat durch Zutritt verschiedener Neugewählter die
Zahl von 69 Mitgliedern erreicht. Unter den Neuzugctretenen befindet sich
auch der aus dem Reichstag bekannte Friedenthal, einer der im Oetober
nach Versailles berufenen „Parlamentsulanen", und der Anführer der Grund¬
besitzerpartei, Herr Elsner von Gronow. Ob für den neuen Reichstag eine


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/62>, abgerufen am 28.09.2024.