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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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Und nun ein kurzer Ueberblick der uns allen wohlvertrauten Periode
der Wiedergeburt!

Mit der preußischen Heeresreorganisation von 1807, mit der Staats¬
erneuerung von 1808 beginnt das neue Leben. Denn was auch immer
den Russen und ihrem Winter, was auch dem Cäsarenwahnsinn Napoleons
zu danken sei -- Rückert hat Recht: "Der Geist, der die Preußen hat ange¬
rührt, der hat's vollführt!"-- Von der Gunst der Umstände aber wurde
dieser Geist nicht getragen; seine Flügelschläge wurden bis zur neuesten
besseren Zeit unerbittlich gehemmt durch die Uneinigkeit der deutschen Völker
und Fürsten und durch den Gegensatz der östreichischen Cabinetspolitik,
der bis unmittelbar in die Heeresleitung hinein seinen altbekannten läh¬
menden Einfluß brachte. -- Als Preußen sich 1813 erhob, war es außer
ihm noch todtenstill im deutschen Vaterlande. Hätten sich im März auch nur
die Sachsen den vordringenden Preußen und Russen angeschlossen: der Feld¬
zug wäre vermuthlich im Mai zu Ende gewesen. Hinter einer Mauer von
Sachsen, Würtenbergern, Westfalen und Hessen wurden die jungen franzö¬
sischen Rekruten eingeübt, mit denen der Kaiser den Kampf aufnehmen wollte.
-- Jene ruhmwürdigen, aber schweren Kämpfe im Frühjahr 1813, schienen
sie nicht vergeblich geschlagen, als ein verhängnißvoller Waffenstillstand ein¬
trat und der gewaltige Aufschwung der Nation einem unzuverlässigen diplo¬
matischen Jntriguenspiele preisgegeben war?! Und wäre Oestreich wol je dem
Kriege gegen Bonaparte beigetreten, wenn dieser nicht, trunken von Ueber¬
muth, die unbegreiflich günstigen Bedingungen Metternichs zurückgewiesen
hätte!? -- Wie Wenige wagten damals weiter zu denken als an die Befrei¬
ung Deutschlands bis zum Rhein! Erst nach der Schlacht bei Leipzig erhob
sich der Geist des Volkes zu kühnerem Planen, und der alte Arndt gab ihm
den richtigen Ausdruck: "Der Rhein Teutschlands Strom, nicht Teutschlands
Gränze!" -- Aber mit welchen Hindernissen hatten die zu kämpfen, in denen
dieser Gedanke lebendig ward! Mitte October war die Völkerschlacht geschla¬
gen, und schon Ende desselben Monats schrieb Gneisenau an den König,
daß der Krieg am Rheine nicht zum Stillstand kommen dürfe, sondern sogleich
über denselben fortgesetzt werden müsse, und Müffling fügte hinzu: "Bleiben
wir diesseit des Rheines stehn und lassen uns von Unterhandlungen Hinhalten,
so prophezeie ich eine blutige Campagne für 1814." -- Dieser Geist jedoch lebte
nur im preußischen Hauptquartier. Die Andern boten noch von Frankfurt
a, M. aus dem Franzosenkaiser die "natürlichen Grenzen", d. h. die Alpen,
die Pyrenäen und -- den Rhein! Ein Winterfeldzug gegen Frankreich, der
sich den Sturz Napoleons und die Wiedererwerbung der linksrheinischen
Lande zum Ziele setzte, das erschien ihnen als ein Aergerniß und eine Thor¬
heit. Oestreich fand ja sein Interesse durchaus nicht in kühner Ueberschrei-


Grenzvotcn I. 187l. ßZ

Und nun ein kurzer Ueberblick der uns allen wohlvertrauten Periode
der Wiedergeburt!

Mit der preußischen Heeresreorganisation von 1807, mit der Staats¬
erneuerung von 1808 beginnt das neue Leben. Denn was auch immer
den Russen und ihrem Winter, was auch dem Cäsarenwahnsinn Napoleons
zu danken sei — Rückert hat Recht: „Der Geist, der die Preußen hat ange¬
rührt, der hat's vollführt!"— Von der Gunst der Umstände aber wurde
dieser Geist nicht getragen; seine Flügelschläge wurden bis zur neuesten
besseren Zeit unerbittlich gehemmt durch die Uneinigkeit der deutschen Völker
und Fürsten und durch den Gegensatz der östreichischen Cabinetspolitik,
der bis unmittelbar in die Heeresleitung hinein seinen altbekannten läh¬
menden Einfluß brachte. — Als Preußen sich 1813 erhob, war es außer
ihm noch todtenstill im deutschen Vaterlande. Hätten sich im März auch nur
die Sachsen den vordringenden Preußen und Russen angeschlossen: der Feld¬
zug wäre vermuthlich im Mai zu Ende gewesen. Hinter einer Mauer von
Sachsen, Würtenbergern, Westfalen und Hessen wurden die jungen franzö¬
sischen Rekruten eingeübt, mit denen der Kaiser den Kampf aufnehmen wollte.
— Jene ruhmwürdigen, aber schweren Kämpfe im Frühjahr 1813, schienen
sie nicht vergeblich geschlagen, als ein verhängnißvoller Waffenstillstand ein¬
trat und der gewaltige Aufschwung der Nation einem unzuverlässigen diplo¬
matischen Jntriguenspiele preisgegeben war?! Und wäre Oestreich wol je dem
Kriege gegen Bonaparte beigetreten, wenn dieser nicht, trunken von Ueber¬
muth, die unbegreiflich günstigen Bedingungen Metternichs zurückgewiesen
hätte!? — Wie Wenige wagten damals weiter zu denken als an die Befrei¬
ung Deutschlands bis zum Rhein! Erst nach der Schlacht bei Leipzig erhob
sich der Geist des Volkes zu kühnerem Planen, und der alte Arndt gab ihm
den richtigen Ausdruck: „Der Rhein Teutschlands Strom, nicht Teutschlands
Gränze!" — Aber mit welchen Hindernissen hatten die zu kämpfen, in denen
dieser Gedanke lebendig ward! Mitte October war die Völkerschlacht geschla¬
gen, und schon Ende desselben Monats schrieb Gneisenau an den König,
daß der Krieg am Rheine nicht zum Stillstand kommen dürfe, sondern sogleich
über denselben fortgesetzt werden müsse, und Müffling fügte hinzu: „Bleiben
wir diesseit des Rheines stehn und lassen uns von Unterhandlungen Hinhalten,
so prophezeie ich eine blutige Campagne für 1814." — Dieser Geist jedoch lebte
nur im preußischen Hauptquartier. Die Andern boten noch von Frankfurt
a, M. aus dem Franzosenkaiser die „natürlichen Grenzen", d. h. die Alpen,
die Pyrenäen und — den Rhein! Ein Winterfeldzug gegen Frankreich, der
sich den Sturz Napoleons und die Wiedererwerbung der linksrheinischen
Lande zum Ziele setzte, das erschien ihnen als ein Aergerniß und eine Thor¬
heit. Oestreich fand ja sein Interesse durchaus nicht in kühner Ueberschrei-


Grenzvotcn I. 187l. ßZ
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/501>, abgerufen am 26.06.2024.