Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

mehr anerkennten und als aufgelöst betrachteten, und wenige Tage später
legte Kaiser Franz die deutsche Krone nieder. -- Aber auch damit
war das Maß noch nicht erfüllt! Zwar hatte Napoleon an jenem 1. August
feierlich erklären lassen, daß er die Grenzen Frankreichs niemals über den
Rhein ausdehnen werde; aber in demselben Augenblicke besetzte er Wesel und
Kastell am Main. Man weiß es, wie er in diesem Sinne fortgefahren ist:
nicht lange und Hamburg und Lübeck galten als Städte von Frankreich; die
Fluthen des deutschen Meeres, ja der Ostsee bespülten "französische Küsten".

Hier schließt die zweite Periode der Kriege zwischen Deutschland und
Frankreich. Sie umfaßt einen Zeitraum von 360 Jahren, der sich in fünf
deutlich erkennbare Abschnitte gliedert und ein unaufhaltsames stetiges Sinken
der Macht und Größe Deutschlands wiederspiegelt. Der erste Abschnitt ist
die Zeit der habsburgisch-spanischen'Vorherrschaft von der Mitte des Is. bis
zu der des 16. Jahrhunderts. Sie weist noch einen Kriegszug in Frankreich
auf, der selbst Paris bedroht. -- Der zweite Abschnitt beginnt mit der
vergeblichen Belagerung von Metz und endet mit dem Westfälischen Frieden.
Während seines Verlaufes gehn für Deutschland die drei Bisthümer und das
Elsaß verloren. -- Der dritte Abschnitt umfaßt einen siebenjährigen Krieg
zum Schutz der Niederlande, ein zehnjähriges Ringen gegen die Reunionen
Ludwig's XIV., sowie den Kampf um die spanische und die polnische Krone.
Schon ist Deutschland in so trauriger Lage, daß es bedenkliche Bundes¬
genossenschaft annehmen muß: im Jahre 1736, während des polnischen Krie¬
ges, bei welchem von allen Reichsfürsten fast nur Preußen treu zum Kaiser
stand, erscheinen zum ersten Male die Russen am Rhein. Straßburg, Landau,
Lothringen gehen dem Reiche verloren. -- Im folgenden Abschnitte, dem der
östreichischen Erbfolgekriege, wird die unmittelbare Einmischung Frankreichs
in rein deutsche Angelegenheiten chronisch; wechselnd kämpft es gegen Habs¬
burg und Hohenzollern, das Ziel der Schwächung Deutschlands fest im Auge
-- und endlich, in der Epoche der Revolutionskriege, trägt diese Verschärfung
der innern Gegensätze des Reiches nur allzu üppig die erwünschte Frucht:
Frankreich erreicht nicht nur die Rheingrenze, sondern es schlägt das Reich
in Trümmer, und selbst die deutschen Küsten gehn verloren.

Es ist ein furchtbares Trauerspiel! Wie schwer, wie unaufhörlich gerun¬
gen worden, geht aus der einfachen Betrachtung hervor, daß aus die Zeit von
der Thronbesteigung Ludwig's XIV. bis zum vollen Triumphe Napoleons I.,
also von 1643 bis 1809, nicht weniger als 66 Kriegsjahre fallen, in denen
zwischen Franzosen und Deutschen gekämpft worden ist; also von je 2^2
Jahren ist eines immer ein Kriegsjahr. -- 1806 war die Wintersonnenwende
Deutschlands. Bon da an wachsen die Tage und werden wieder hell.


mehr anerkennten und als aufgelöst betrachteten, und wenige Tage später
legte Kaiser Franz die deutsche Krone nieder. — Aber auch damit
war das Maß noch nicht erfüllt! Zwar hatte Napoleon an jenem 1. August
feierlich erklären lassen, daß er die Grenzen Frankreichs niemals über den
Rhein ausdehnen werde; aber in demselben Augenblicke besetzte er Wesel und
Kastell am Main. Man weiß es, wie er in diesem Sinne fortgefahren ist:
nicht lange und Hamburg und Lübeck galten als Städte von Frankreich; die
Fluthen des deutschen Meeres, ja der Ostsee bespülten „französische Küsten".

Hier schließt die zweite Periode der Kriege zwischen Deutschland und
Frankreich. Sie umfaßt einen Zeitraum von 360 Jahren, der sich in fünf
deutlich erkennbare Abschnitte gliedert und ein unaufhaltsames stetiges Sinken
der Macht und Größe Deutschlands wiederspiegelt. Der erste Abschnitt ist
die Zeit der habsburgisch-spanischen'Vorherrschaft von der Mitte des Is. bis
zu der des 16. Jahrhunderts. Sie weist noch einen Kriegszug in Frankreich
auf, der selbst Paris bedroht. — Der zweite Abschnitt beginnt mit der
vergeblichen Belagerung von Metz und endet mit dem Westfälischen Frieden.
Während seines Verlaufes gehn für Deutschland die drei Bisthümer und das
Elsaß verloren. — Der dritte Abschnitt umfaßt einen siebenjährigen Krieg
zum Schutz der Niederlande, ein zehnjähriges Ringen gegen die Reunionen
Ludwig's XIV., sowie den Kampf um die spanische und die polnische Krone.
Schon ist Deutschland in so trauriger Lage, daß es bedenkliche Bundes¬
genossenschaft annehmen muß: im Jahre 1736, während des polnischen Krie¬
ges, bei welchem von allen Reichsfürsten fast nur Preußen treu zum Kaiser
stand, erscheinen zum ersten Male die Russen am Rhein. Straßburg, Landau,
Lothringen gehen dem Reiche verloren. — Im folgenden Abschnitte, dem der
östreichischen Erbfolgekriege, wird die unmittelbare Einmischung Frankreichs
in rein deutsche Angelegenheiten chronisch; wechselnd kämpft es gegen Habs¬
burg und Hohenzollern, das Ziel der Schwächung Deutschlands fest im Auge
— und endlich, in der Epoche der Revolutionskriege, trägt diese Verschärfung
der innern Gegensätze des Reiches nur allzu üppig die erwünschte Frucht:
Frankreich erreicht nicht nur die Rheingrenze, sondern es schlägt das Reich
in Trümmer, und selbst die deutschen Küsten gehn verloren.

Es ist ein furchtbares Trauerspiel! Wie schwer, wie unaufhörlich gerun¬
gen worden, geht aus der einfachen Betrachtung hervor, daß aus die Zeit von
der Thronbesteigung Ludwig's XIV. bis zum vollen Triumphe Napoleons I.,
also von 1643 bis 1809, nicht weniger als 66 Kriegsjahre fallen, in denen
zwischen Franzosen und Deutschen gekämpft worden ist; also von je 2^2
Jahren ist eines immer ein Kriegsjahr. — 1806 war die Wintersonnenwende
Deutschlands. Bon da an wachsen die Tage und werden wieder hell.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0500" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/125744"/>
            <p xml:id="ID_1651" prev="#ID_1650"> mehr anerkennten und als aufgelöst betrachteten, und wenige Tage später<lb/>
legte Kaiser Franz die deutsche Krone nieder. &#x2014; Aber auch damit<lb/>
war das Maß noch nicht erfüllt! Zwar hatte Napoleon an jenem 1. August<lb/>
feierlich erklären lassen, daß er die Grenzen Frankreichs niemals über den<lb/>
Rhein ausdehnen werde; aber in demselben Augenblicke besetzte er Wesel und<lb/>
Kastell am Main. Man weiß es, wie er in diesem Sinne fortgefahren ist:<lb/>
nicht lange und Hamburg und Lübeck galten als Städte von Frankreich; die<lb/>
Fluthen des deutschen Meeres, ja der Ostsee bespülten &#x201E;französische Küsten".</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1652"> Hier schließt die zweite Periode der Kriege zwischen Deutschland und<lb/>
Frankreich. Sie umfaßt einen Zeitraum von 360 Jahren, der sich in fünf<lb/>
deutlich erkennbare Abschnitte gliedert und ein unaufhaltsames stetiges Sinken<lb/>
der Macht und Größe Deutschlands wiederspiegelt. Der erste Abschnitt ist<lb/>
die Zeit der habsburgisch-spanischen'Vorherrschaft von der Mitte des Is. bis<lb/>
zu der des 16. Jahrhunderts. Sie weist noch einen Kriegszug in Frankreich<lb/>
auf, der selbst Paris bedroht. &#x2014; Der zweite Abschnitt beginnt mit der<lb/>
vergeblichen Belagerung von Metz und endet mit dem Westfälischen Frieden.<lb/>
Während seines Verlaufes gehn für Deutschland die drei Bisthümer und das<lb/>
Elsaß verloren. &#x2014; Der dritte Abschnitt umfaßt einen siebenjährigen Krieg<lb/>
zum Schutz der Niederlande, ein zehnjähriges Ringen gegen die Reunionen<lb/>
Ludwig's XIV., sowie den Kampf um die spanische und die polnische Krone.<lb/>
Schon ist Deutschland in so trauriger Lage, daß es bedenkliche Bundes¬<lb/>
genossenschaft annehmen muß: im Jahre 1736, während des polnischen Krie¬<lb/>
ges, bei welchem von allen Reichsfürsten fast nur Preußen treu zum Kaiser<lb/>
stand, erscheinen zum ersten Male die Russen am Rhein. Straßburg, Landau,<lb/>
Lothringen gehen dem Reiche verloren. &#x2014; Im folgenden Abschnitte, dem der<lb/>
östreichischen Erbfolgekriege, wird die unmittelbare Einmischung Frankreichs<lb/>
in rein deutsche Angelegenheiten chronisch; wechselnd kämpft es gegen Habs¬<lb/>
burg und Hohenzollern, das Ziel der Schwächung Deutschlands fest im Auge<lb/>
&#x2014; und endlich, in der Epoche der Revolutionskriege, trägt diese Verschärfung<lb/>
der innern Gegensätze des Reiches nur allzu üppig die erwünschte Frucht:<lb/>
Frankreich erreicht nicht nur die Rheingrenze, sondern es schlägt das Reich<lb/>
in Trümmer, und selbst die deutschen Küsten gehn verloren.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1653"> Es ist ein furchtbares Trauerspiel! Wie schwer, wie unaufhörlich gerun¬<lb/>
gen worden, geht aus der einfachen Betrachtung hervor, daß aus die Zeit von<lb/>
der Thronbesteigung Ludwig's XIV. bis zum vollen Triumphe Napoleons I.,<lb/>
also von 1643 bis 1809, nicht weniger als 66 Kriegsjahre fallen, in denen<lb/>
zwischen Franzosen und Deutschen gekämpft worden ist; also von je 2^2<lb/>
Jahren ist eines immer ein Kriegsjahr. &#x2014; 1806 war die Wintersonnenwende<lb/>
Deutschlands. Bon da an wachsen die Tage und werden wieder hell.</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0500] mehr anerkennten und als aufgelöst betrachteten, und wenige Tage später legte Kaiser Franz die deutsche Krone nieder. — Aber auch damit war das Maß noch nicht erfüllt! Zwar hatte Napoleon an jenem 1. August feierlich erklären lassen, daß er die Grenzen Frankreichs niemals über den Rhein ausdehnen werde; aber in demselben Augenblicke besetzte er Wesel und Kastell am Main. Man weiß es, wie er in diesem Sinne fortgefahren ist: nicht lange und Hamburg und Lübeck galten als Städte von Frankreich; die Fluthen des deutschen Meeres, ja der Ostsee bespülten „französische Küsten". Hier schließt die zweite Periode der Kriege zwischen Deutschland und Frankreich. Sie umfaßt einen Zeitraum von 360 Jahren, der sich in fünf deutlich erkennbare Abschnitte gliedert und ein unaufhaltsames stetiges Sinken der Macht und Größe Deutschlands wiederspiegelt. Der erste Abschnitt ist die Zeit der habsburgisch-spanischen'Vorherrschaft von der Mitte des Is. bis zu der des 16. Jahrhunderts. Sie weist noch einen Kriegszug in Frankreich auf, der selbst Paris bedroht. — Der zweite Abschnitt beginnt mit der vergeblichen Belagerung von Metz und endet mit dem Westfälischen Frieden. Während seines Verlaufes gehn für Deutschland die drei Bisthümer und das Elsaß verloren. — Der dritte Abschnitt umfaßt einen siebenjährigen Krieg zum Schutz der Niederlande, ein zehnjähriges Ringen gegen die Reunionen Ludwig's XIV., sowie den Kampf um die spanische und die polnische Krone. Schon ist Deutschland in so trauriger Lage, daß es bedenkliche Bundes¬ genossenschaft annehmen muß: im Jahre 1736, während des polnischen Krie¬ ges, bei welchem von allen Reichsfürsten fast nur Preußen treu zum Kaiser stand, erscheinen zum ersten Male die Russen am Rhein. Straßburg, Landau, Lothringen gehen dem Reiche verloren. — Im folgenden Abschnitte, dem der östreichischen Erbfolgekriege, wird die unmittelbare Einmischung Frankreichs in rein deutsche Angelegenheiten chronisch; wechselnd kämpft es gegen Habs¬ burg und Hohenzollern, das Ziel der Schwächung Deutschlands fest im Auge — und endlich, in der Epoche der Revolutionskriege, trägt diese Verschärfung der innern Gegensätze des Reiches nur allzu üppig die erwünschte Frucht: Frankreich erreicht nicht nur die Rheingrenze, sondern es schlägt das Reich in Trümmer, und selbst die deutschen Küsten gehn verloren. Es ist ein furchtbares Trauerspiel! Wie schwer, wie unaufhörlich gerun¬ gen worden, geht aus der einfachen Betrachtung hervor, daß aus die Zeit von der Thronbesteigung Ludwig's XIV. bis zum vollen Triumphe Napoleons I., also von 1643 bis 1809, nicht weniger als 66 Kriegsjahre fallen, in denen zwischen Franzosen und Deutschen gekämpft worden ist; also von je 2^2 Jahren ist eines immer ein Kriegsjahr. — 1806 war die Wintersonnenwende Deutschlands. Bon da an wachsen die Tage und werden wieder hell.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/500
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/500>, abgerufen am 26.06.2024.