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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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reichte dieselbe eine zeitweise Bedeutung, die sie im übrigen weder ihrer Zahl,
noch ihren Gesinnungen verdanken würde. Was ihr aber den eigentlichen
Halt und einen positiven Boden.im Volke gab, das war der richtige Jnstinct,
mit dem sie die Halbheit der Massen erkannte und zum Ausdruck brachte.
Man darf sich nicht verhehlen, daß wir uns in Baiern noch in einem
Uebergangszustand befinden, dessen Entwicklung an Raschheit den Ereignissen
nicht nachkommen konnte. Unsere Geschichte ist seit Jahrhunderten eine halbe
oder richtiger gesagt eine zwiefache, zweideutige gewesen, mit einem Blicke dem
Volkswohl zugewandt und mit dem andern nach den Jesuiten schielend. Die
Politik der halben Maßregeln (man nennt sie euphemistisch die Politik der
freien Hand) hat uns seit 50 Jahren geleitet und so ist denn auch das Be¬
wußtsein des Volkes in einem Stadium geblieben, das man wohl als Mittel¬
lage bezeichnen könnte, wenn man es nicht richtiger als Halbheit bezeichnete.
Die Scheu vor jedem enogiltigen Entschluß, vor jeder energischen Initiative,
das Odium gegen ein scharfbegrenztes positives Programm, das sind die
Merkmale jener Mittelanschauung, die zum Theil noch unendlich tiefen Boden
im Volke hat. Daß die Entschiedenheit der Ereignisse unterdessen auch auf
die Entschiedenheit der Gesinnung vielfachen Einfluß übte, wird damit natür¬
lich nicht geleugnet.

Was das Programm der neuen Fraction betraf, so ging es noch so
ziemlich hinter die Mitte zurück, denn die meisten Anhänger derselben sind
nicht bloß Katholiken, sondern Klerikale. Eine aufrichtige Freude an der
Neubegründung des Reiches empfanden sie nicht (wenn nicht etwa die Sprache
dazu da ist, um die Gedanken zu verbergen); die Opfer, welche ihr Particu-
larismus dem Ganzen brachte, wurden mit Wehklagen hingegeben; aber die
Herren waren klug genug, um zu begreifen, daß jeder Widerstand dieselben
noch vermehren würde. So acceptirten sie die Situation, nicht bloß mit dem
Hintergedanken, sondern mit der ausgesprochenen Absicht, die Konsequenzen
der Verträge thunlichst zu bekämpfen, nachdem die Annahme unvermeidlich
geworden war. Nicht an die gemeinschaftlichen Punkte, sondern an die Aus¬
nahmsbestimmungen derselben wollten sie die weitere Entwicklung der Dinge
anknüpfen, und was die Stellung zu den Alt-Ultramontanen anging, so
mochte man wohl anfangs auf die alte Devise zählen: Oleneus elerieum
mein deeiirM. Die Persönlichkeit, welche als der adäquateste Ausdruck dieser
Richtung erscheinen konnte, war Dr. Huttler, der Herausgeber der Augsbur¬
ger Postzeitung. Ein Freund jener geschäftigen Wichtigkeit, die sich bei bei¬
den Parteien unentbehrlich machen will, der politische Nährvater des gesamm-
ten bairischen Clerus, welchem die Kost des "Volksboden" etwa zu derb
wird, hat Huttler unbestreitbar einen großen politischen Einfluß, und bemüht
sich in seinem Blatt, die refleetive Decenz, das Bildungscapital der katholi-


reichte dieselbe eine zeitweise Bedeutung, die sie im übrigen weder ihrer Zahl,
noch ihren Gesinnungen verdanken würde. Was ihr aber den eigentlichen
Halt und einen positiven Boden.im Volke gab, das war der richtige Jnstinct,
mit dem sie die Halbheit der Massen erkannte und zum Ausdruck brachte.
Man darf sich nicht verhehlen, daß wir uns in Baiern noch in einem
Uebergangszustand befinden, dessen Entwicklung an Raschheit den Ereignissen
nicht nachkommen konnte. Unsere Geschichte ist seit Jahrhunderten eine halbe
oder richtiger gesagt eine zwiefache, zweideutige gewesen, mit einem Blicke dem
Volkswohl zugewandt und mit dem andern nach den Jesuiten schielend. Die
Politik der halben Maßregeln (man nennt sie euphemistisch die Politik der
freien Hand) hat uns seit 50 Jahren geleitet und so ist denn auch das Be¬
wußtsein des Volkes in einem Stadium geblieben, das man wohl als Mittel¬
lage bezeichnen könnte, wenn man es nicht richtiger als Halbheit bezeichnete.
Die Scheu vor jedem enogiltigen Entschluß, vor jeder energischen Initiative,
das Odium gegen ein scharfbegrenztes positives Programm, das sind die
Merkmale jener Mittelanschauung, die zum Theil noch unendlich tiefen Boden
im Volke hat. Daß die Entschiedenheit der Ereignisse unterdessen auch auf
die Entschiedenheit der Gesinnung vielfachen Einfluß übte, wird damit natür¬
lich nicht geleugnet.

Was das Programm der neuen Fraction betraf, so ging es noch so
ziemlich hinter die Mitte zurück, denn die meisten Anhänger derselben sind
nicht bloß Katholiken, sondern Klerikale. Eine aufrichtige Freude an der
Neubegründung des Reiches empfanden sie nicht (wenn nicht etwa die Sprache
dazu da ist, um die Gedanken zu verbergen); die Opfer, welche ihr Particu-
larismus dem Ganzen brachte, wurden mit Wehklagen hingegeben; aber die
Herren waren klug genug, um zu begreifen, daß jeder Widerstand dieselben
noch vermehren würde. So acceptirten sie die Situation, nicht bloß mit dem
Hintergedanken, sondern mit der ausgesprochenen Absicht, die Konsequenzen
der Verträge thunlichst zu bekämpfen, nachdem die Annahme unvermeidlich
geworden war. Nicht an die gemeinschaftlichen Punkte, sondern an die Aus¬
nahmsbestimmungen derselben wollten sie die weitere Entwicklung der Dinge
anknüpfen, und was die Stellung zu den Alt-Ultramontanen anging, so
mochte man wohl anfangs auf die alte Devise zählen: Oleneus elerieum
mein deeiirM. Die Persönlichkeit, welche als der adäquateste Ausdruck dieser
Richtung erscheinen konnte, war Dr. Huttler, der Herausgeber der Augsbur¬
ger Postzeitung. Ein Freund jener geschäftigen Wichtigkeit, die sich bei bei¬
den Parteien unentbehrlich machen will, der politische Nährvater des gesamm-
ten bairischen Clerus, welchem die Kost des „Volksboden" etwa zu derb
wird, hat Huttler unbestreitbar einen großen politischen Einfluß, und bemüht
sich in seinem Blatt, die refleetive Decenz, das Bildungscapital der katholi-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/486>, abgerufen am 26.06.2024.