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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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Die Würfel waren gefallen mit jenem Tag, der über die Annahme der
Verträge entschied; der Nubico, den wir Main heißen, war überschritten.
Es erscheint natürlich, daß der großen Erregung zunächst eine große Er¬
schöpfung folgte; denn auch im Leben der Völker gelten die Gesetze, die das
Leben des Einzelnen leiten, auch in der Politik herrschen physikalische Nor¬
men. So überließ man sich denn in den ersten Wochen einer befriedigten
Müdigkeit, man sah zurück auf das, was geleistet war, man hielt kaum
mehr für möglich, daß noch Bruchstücke aus der Vergangenheit in die Zu¬
kunft hinüber reichen, daß die alten Gegensätze und Gegner sich noch einmal
beleben würden. Freilich war das nur die erste Empfindung, es war mehr
ein Eindruck als eine Ueberzeugung, aber man wollte aus den Flitterwochen
der neuen Vereinigung jeden Schatten verbannen.

Dem Denkenden indessen trat bald die ernstere Einsicht zur Seite; man
mußte sich sagen, daß man die Feinde der Freiheit zwar überwunden, aber
keineswegs vernichtet habe, und daß keine große innere Umbildung des Volks¬
geistes sich sofort mit der äußeren Neugestaltung, mit dem entscheidenden
Schlag, der sie geschaffen hat, vollendet.

So fand man denn auf dem Grunde der neuen Ereignisse bald die alten
Factoren wieder, die man im Jubel gewissermaßen für verschwunden hielt;
allein soviel freilich war sicher, daß sich die Proportionen derselben und die Macht¬
verhältnisse gründlich verschoben hatten. Man fand sie, um ein Bild zu ge¬
brauchen, in ähnlicher Weise, wie man nach einer mächtigen Explosion die
Theile eines Hauses findet, die früher ein festes Gefüge gebildet hatten. Und
wenn auch die Kraft des Zusammenhangs gründlich erschüttert war, so be¬
hielten doch die einzelnen Trümmer alle Kraft des Widerstandes, alle Hin-,
derungsfähigkeit, die ursprünglich in ihnen lag, man hatte nur das ge¬
wonnen, daß man jetzt Schutthaufen übersteigen mußte, wo man früher
trotzige Mauern zu übersteigen hatte.

Kehren wir zurück zur concreten Gestaltung der Dinge, so finden wir
vor allem eine tiefgehende Umgestaltung der Parteiverhältnisse. Die com-
Pacte Masse der Ultramontanen, welche bisher dem Fortschritt gegenüber
stand, überlegen durch ihre Zahl und gefährlich durch ihren Terrorismus, ist
jetzt in zwei Theile zerrissen, die sich feindlich gegenüber stehen. Die künst¬
liche oder besser gesagt die listige Gewalt, mit welcher ganz heterogene Ele¬
mente in die Fesseln und in die Formen einer Partei zusammengedrängt
waren, widerstand der Erschütterung, dem elementaren Ruck, mit dem sich
die Bildung des neuen Reiches vollzog, nicht auf die Dauer; die Ausschei-


Die Würfel waren gefallen mit jenem Tag, der über die Annahme der
Verträge entschied; der Nubico, den wir Main heißen, war überschritten.
Es erscheint natürlich, daß der großen Erregung zunächst eine große Er¬
schöpfung folgte; denn auch im Leben der Völker gelten die Gesetze, die das
Leben des Einzelnen leiten, auch in der Politik herrschen physikalische Nor¬
men. So überließ man sich denn in den ersten Wochen einer befriedigten
Müdigkeit, man sah zurück auf das, was geleistet war, man hielt kaum
mehr für möglich, daß noch Bruchstücke aus der Vergangenheit in die Zu¬
kunft hinüber reichen, daß die alten Gegensätze und Gegner sich noch einmal
beleben würden. Freilich war das nur die erste Empfindung, es war mehr
ein Eindruck als eine Ueberzeugung, aber man wollte aus den Flitterwochen
der neuen Vereinigung jeden Schatten verbannen.

Dem Denkenden indessen trat bald die ernstere Einsicht zur Seite; man
mußte sich sagen, daß man die Feinde der Freiheit zwar überwunden, aber
keineswegs vernichtet habe, und daß keine große innere Umbildung des Volks¬
geistes sich sofort mit der äußeren Neugestaltung, mit dem entscheidenden
Schlag, der sie geschaffen hat, vollendet.

So fand man denn auf dem Grunde der neuen Ereignisse bald die alten
Factoren wieder, die man im Jubel gewissermaßen für verschwunden hielt;
allein soviel freilich war sicher, daß sich die Proportionen derselben und die Macht¬
verhältnisse gründlich verschoben hatten. Man fand sie, um ein Bild zu ge¬
brauchen, in ähnlicher Weise, wie man nach einer mächtigen Explosion die
Theile eines Hauses findet, die früher ein festes Gefüge gebildet hatten. Und
wenn auch die Kraft des Zusammenhangs gründlich erschüttert war, so be¬
hielten doch die einzelnen Trümmer alle Kraft des Widerstandes, alle Hin-,
derungsfähigkeit, die ursprünglich in ihnen lag, man hatte nur das ge¬
wonnen, daß man jetzt Schutthaufen übersteigen mußte, wo man früher
trotzige Mauern zu übersteigen hatte.

Kehren wir zurück zur concreten Gestaltung der Dinge, so finden wir
vor allem eine tiefgehende Umgestaltung der Parteiverhältnisse. Die com-
Pacte Masse der Ultramontanen, welche bisher dem Fortschritt gegenüber
stand, überlegen durch ihre Zahl und gefährlich durch ihren Terrorismus, ist
jetzt in zwei Theile zerrissen, die sich feindlich gegenüber stehen. Die künst¬
liche oder besser gesagt die listige Gewalt, mit welcher ganz heterogene Ele¬
mente in die Fesseln und in die Formen einer Partei zusammengedrängt
waren, widerstand der Erschütterung, dem elementaren Ruck, mit dem sich
die Bildung des neuen Reiches vollzog, nicht auf die Dauer; die Ausschei-


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[0483] Die Würfel waren gefallen mit jenem Tag, der über die Annahme der Verträge entschied; der Nubico, den wir Main heißen, war überschritten. Es erscheint natürlich, daß der großen Erregung zunächst eine große Er¬ schöpfung folgte; denn auch im Leben der Völker gelten die Gesetze, die das Leben des Einzelnen leiten, auch in der Politik herrschen physikalische Nor¬ men. So überließ man sich denn in den ersten Wochen einer befriedigten Müdigkeit, man sah zurück auf das, was geleistet war, man hielt kaum mehr für möglich, daß noch Bruchstücke aus der Vergangenheit in die Zu¬ kunft hinüber reichen, daß die alten Gegensätze und Gegner sich noch einmal beleben würden. Freilich war das nur die erste Empfindung, es war mehr ein Eindruck als eine Ueberzeugung, aber man wollte aus den Flitterwochen der neuen Vereinigung jeden Schatten verbannen. Dem Denkenden indessen trat bald die ernstere Einsicht zur Seite; man mußte sich sagen, daß man die Feinde der Freiheit zwar überwunden, aber keineswegs vernichtet habe, und daß keine große innere Umbildung des Volks¬ geistes sich sofort mit der äußeren Neugestaltung, mit dem entscheidenden Schlag, der sie geschaffen hat, vollendet. So fand man denn auf dem Grunde der neuen Ereignisse bald die alten Factoren wieder, die man im Jubel gewissermaßen für verschwunden hielt; allein soviel freilich war sicher, daß sich die Proportionen derselben und die Macht¬ verhältnisse gründlich verschoben hatten. Man fand sie, um ein Bild zu ge¬ brauchen, in ähnlicher Weise, wie man nach einer mächtigen Explosion die Theile eines Hauses findet, die früher ein festes Gefüge gebildet hatten. Und wenn auch die Kraft des Zusammenhangs gründlich erschüttert war, so be¬ hielten doch die einzelnen Trümmer alle Kraft des Widerstandes, alle Hin-, derungsfähigkeit, die ursprünglich in ihnen lag, man hatte nur das ge¬ wonnen, daß man jetzt Schutthaufen übersteigen mußte, wo man früher trotzige Mauern zu übersteigen hatte. Kehren wir zurück zur concreten Gestaltung der Dinge, so finden wir vor allem eine tiefgehende Umgestaltung der Parteiverhältnisse. Die com- Pacte Masse der Ultramontanen, welche bisher dem Fortschritt gegenüber stand, überlegen durch ihre Zahl und gefährlich durch ihren Terrorismus, ist jetzt in zwei Theile zerrissen, die sich feindlich gegenüber stehen. Die künst¬ liche oder besser gesagt die listige Gewalt, mit welcher ganz heterogene Ele¬ mente in die Fesseln und in die Formen einer Partei zusammengedrängt waren, widerstand der Erschütterung, dem elementaren Ruck, mit dem sich die Bildung des neuen Reiches vollzog, nicht auf die Dauer; die Ausschei-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/483>, abgerufen am 26.06.2024.