Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.Mit bangen Ahnungen sah die freisinnige Bevölkerung dem Wiederzu¬ Daß eine Politik, welche den innern Frieden durch freisinnige Fort¬ Mit geringen Ausnahmen spiegelte sich in den Organen der öffentlichen Mit bangen Ahnungen sah die freisinnige Bevölkerung dem Wiederzu¬ Daß eine Politik, welche den innern Frieden durch freisinnige Fort¬ Mit geringen Ausnahmen spiegelte sich in den Organen der öffentlichen <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0447" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/125691"/> <p xml:id="ID_1513"> Mit bangen Ahnungen sah die freisinnige Bevölkerung dem Wiederzu¬<lb/> sammentritt des Reichsraths und dem Verhalten der deutschen Verfassungs¬<lb/> partei entgegen; mit Spannung erwartete das Wiener Publicum die Vor¬<lb/> stellung der neuen Minister im'Abgeordnetenhause. Schon vor dem Beginn<lb/> der ersten (diesjährigen) Sitzung, am 20. Februar, waren die Galerien über¬<lb/> füllt. Die hohe Gestalt, das angenehme Aeußere, der charakteristische, durch<lb/> schwarzen Vollbart und dunkles Haar markirte Kopf des Herrn v. Habietinek<lb/> und das Czechengesicht des Unterrichtsministers Jirecek fesselten die allgemeine<lb/> Aufmerksamkeit. Graf Hohenwart, ein schlanker Mann mit blassen Zügen,<lb/> hatte den Sitz des Ministerpräsidenten eingenommen und unter fast lautloser<lb/> Stille eine Ansprache an die Abgeordneten gerichtet, „das neue Ministerium<lb/> in dem hohen Hause einzuführen." — Die Wiederherstellung des innern<lb/> Friedens sei das Ziel der Negierung, der gerade Weg der Verfassung die<lb/> Richtung ihres Strebens; sie beabsichtige verfassungsmäßige Aenderung'jener<lb/> Einrichtungen, welche die Autonomie der einzelnen Länder in höherem Grade<lb/> beschränken, als es das Interesse der Gesammtheit erfordere, indem sie die<lb/> Gesetzgebungs-Jnitiative der Landtage erweitern, durch autonome Gestaltung<lb/> und Vereinfachung des Verwaltungsorganismus eine regere Betheiligung der<lb/> Bevölkerung an der Verwaltung herbeiführen und diesem Bollwerk der Natio¬<lb/> nalitäten vor Vergewaltigung das Recht des Reichsraths gegenüberstellen<lb/> wolle, über die Angemessenheit specieller Gesetze zu entscheiden.' Für die Aus¬<lb/> bildung und Belebung der freiheitlichen Einrichtungen im Geist wahren Fort¬<lb/> schritts, für Förderung der geistigen und materiellen Interessen und für all¬<lb/> seitig gerechte Lösung der kirchlichen Fragen werde das Ministerium seine<lb/> volle, durch gleiche Grundsätze geeinigte Kraft in der Ueberzeugung einsetzen,<lb/> daß die gesammte Bevölkerung eine Regierung stützen werde, die fern von<lb/> jedem einseitigen Parteistandpünkt eine wahrhaft östreichische Politik verfolge.</p><lb/> <p xml:id="ID_1514"> Daß eine Politik, welche den innern Frieden durch freisinnige Fort¬<lb/> entwickelung der Verfassung herzustellen hofft, in unauflösbaren Widersprüchen<lb/> befangen bleiben muß, ergibt sich aus flüchtiger Betrachtung der weit aus¬<lb/> einander strebenden Gegensätze, welche den Staat zerklüften. Nur durch<lb/> Beseitigung der Verfassung und Aufrechthaltung der kirchlichen Gewalt ist<lb/> die klerikale Partei, nur durch unabhängige Gestaltung der Königreiche und<lb/> Länder auf Grund besonderer Landesrechte ist die nationale Opposition zu<lb/> befriedigen. Von den Einen erhält der östreichische Staatsgedanke eine römische<lb/> Färbung, von den Andern wird er in Atome zersplittert; die Ultramontanen<lb/> erkennen den Syllabus, die Liberalen die Maigesetze als Richtschnur der Ge¬<lb/> setzgebung: welche Stürme droht aber der verheißene Aufbau des Nationali¬<lb/> tätenbollwerks zu entfesseln, wenn die scharfe Abgränzung der Befugnisse<lb/> zwischen Reichsrath und Landtagen nicht einmal den Widerstreit der Svnder-<lb/> interessen hat verhindern können, aus derem Gewirr die galicische Resolution<lb/> und der Dietl'sche Antrag in Tirol entsprang? Die Politik der Gegenwart<lb/> ruht auf dem Leben der Parteien; Aufgabe der Regierung wird es immer<lb/> bleiben, über die Berechtigung der Sonderstrebungen im Hinblick auf das<lb/> Wohl des Ganzen zu entscheiden.</p><lb/> <p xml:id="ID_1515" next="#ID_1516"> Mit geringen Ausnahmen spiegelte sich in den Organen der öffentlichen<lb/> Meinung steigendes Mißtrauen der Bevölkerung gegen die Absichten des Mi¬<lb/> nisteriums, und die Rede des Grafen Hohenwart hatte die Zweifel und Be¬<lb/> fürchtungen der Verfassungspartei nicht zerstreut. Statt der erwarteten Vor¬<lb/> lagen über die angekündigten Reformen wurde dem Hause ein Gesetzentwurf<lb/> unterbreitet, der die Forterhebung der Steuern und Abgaben auf zwei Mo¬<lb/> nate zum Zweck hatte. Da nach § 11 der Verfassung die Bewilligung der</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0447]
Mit bangen Ahnungen sah die freisinnige Bevölkerung dem Wiederzu¬
sammentritt des Reichsraths und dem Verhalten der deutschen Verfassungs¬
partei entgegen; mit Spannung erwartete das Wiener Publicum die Vor¬
stellung der neuen Minister im'Abgeordnetenhause. Schon vor dem Beginn
der ersten (diesjährigen) Sitzung, am 20. Februar, waren die Galerien über¬
füllt. Die hohe Gestalt, das angenehme Aeußere, der charakteristische, durch
schwarzen Vollbart und dunkles Haar markirte Kopf des Herrn v. Habietinek
und das Czechengesicht des Unterrichtsministers Jirecek fesselten die allgemeine
Aufmerksamkeit. Graf Hohenwart, ein schlanker Mann mit blassen Zügen,
hatte den Sitz des Ministerpräsidenten eingenommen und unter fast lautloser
Stille eine Ansprache an die Abgeordneten gerichtet, „das neue Ministerium
in dem hohen Hause einzuführen." — Die Wiederherstellung des innern
Friedens sei das Ziel der Negierung, der gerade Weg der Verfassung die
Richtung ihres Strebens; sie beabsichtige verfassungsmäßige Aenderung'jener
Einrichtungen, welche die Autonomie der einzelnen Länder in höherem Grade
beschränken, als es das Interesse der Gesammtheit erfordere, indem sie die
Gesetzgebungs-Jnitiative der Landtage erweitern, durch autonome Gestaltung
und Vereinfachung des Verwaltungsorganismus eine regere Betheiligung der
Bevölkerung an der Verwaltung herbeiführen und diesem Bollwerk der Natio¬
nalitäten vor Vergewaltigung das Recht des Reichsraths gegenüberstellen
wolle, über die Angemessenheit specieller Gesetze zu entscheiden.' Für die Aus¬
bildung und Belebung der freiheitlichen Einrichtungen im Geist wahren Fort¬
schritts, für Förderung der geistigen und materiellen Interessen und für all¬
seitig gerechte Lösung der kirchlichen Fragen werde das Ministerium seine
volle, durch gleiche Grundsätze geeinigte Kraft in der Ueberzeugung einsetzen,
daß die gesammte Bevölkerung eine Regierung stützen werde, die fern von
jedem einseitigen Parteistandpünkt eine wahrhaft östreichische Politik verfolge.
Daß eine Politik, welche den innern Frieden durch freisinnige Fort¬
entwickelung der Verfassung herzustellen hofft, in unauflösbaren Widersprüchen
befangen bleiben muß, ergibt sich aus flüchtiger Betrachtung der weit aus¬
einander strebenden Gegensätze, welche den Staat zerklüften. Nur durch
Beseitigung der Verfassung und Aufrechthaltung der kirchlichen Gewalt ist
die klerikale Partei, nur durch unabhängige Gestaltung der Königreiche und
Länder auf Grund besonderer Landesrechte ist die nationale Opposition zu
befriedigen. Von den Einen erhält der östreichische Staatsgedanke eine römische
Färbung, von den Andern wird er in Atome zersplittert; die Ultramontanen
erkennen den Syllabus, die Liberalen die Maigesetze als Richtschnur der Ge¬
setzgebung: welche Stürme droht aber der verheißene Aufbau des Nationali¬
tätenbollwerks zu entfesseln, wenn die scharfe Abgränzung der Befugnisse
zwischen Reichsrath und Landtagen nicht einmal den Widerstreit der Svnder-
interessen hat verhindern können, aus derem Gewirr die galicische Resolution
und der Dietl'sche Antrag in Tirol entsprang? Die Politik der Gegenwart
ruht auf dem Leben der Parteien; Aufgabe der Regierung wird es immer
bleiben, über die Berechtigung der Sonderstrebungen im Hinblick auf das
Wohl des Ganzen zu entscheiden.
Mit geringen Ausnahmen spiegelte sich in den Organen der öffentlichen
Meinung steigendes Mißtrauen der Bevölkerung gegen die Absichten des Mi¬
nisteriums, und die Rede des Grafen Hohenwart hatte die Zweifel und Be¬
fürchtungen der Verfassungspartei nicht zerstreut. Statt der erwarteten Vor¬
lagen über die angekündigten Reformen wurde dem Hause ein Gesetzentwurf
unterbreitet, der die Forterhebung der Steuern und Abgaben auf zwei Mo¬
nate zum Zweck hatte. Da nach § 11 der Verfassung die Bewilligung der
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