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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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Baders, die, zwei auf einmal fallend, den Greis ohne Erben zurücklassen;
Zwillingsbrüder, von demselben Gegner nebeneinander getödtet wie zwei Lö¬
wen , die lange mit einander im Gebirge auf Raub ausgezogen sind, bis sie
selbst dem Beil der Männer erliegen. Protesilaos, der eben vermählte, dessen
junge Gattin von allen Griechenfrauen zuerst Wittwe wurde. Als er vor
den übrigen Achäern vom Schiff ans Land sprang, tödtete ihn ein barbari-
scher Mann, und seitdem deckte ihn schon lange die schwarze Erde. Einen
gastlichen Mann, der an der Landstraße sein Haus hatte, erlegt Diomedes,
und Keiner von allen, die er je aufgenommen, ist zur Hand ihm das Ver¬
derben abzuwehren. Hier ein reicher Milesier. der wie ein Mädchen in den
Krieg ging, der thörichte, und doch half ihm sein Gold Nichts, sondern Achill
erschlug ihn im Fluß und erbeutete sein Gold. Dort schläft ein Thrakier
den ehernen Schlaf, fern von der noch ungenossenen Gattin, die er doch so
theuer erkauft hatte: erst 100 Rinder gab er und dann versprach er noch
1000 Ziegen und Schafe, die ihm in zahlloser Menge auf der Weide waren.
Nun aber hat ihm Agamemnon die Waffen abgezogen und trägt sie
von dannen. An die tragische Spitze des Ganzen, Aedilis Schmerz
um seinen Patroklos. an den namenlosen Jammer des Priamos. an
Andromache's Klage brauch' ich nicht zu erinnern. Der göttliche Petite,
der unter allen Helden von Troja am nächsten an die Herrlichkeit der Un¬
sterblichen heranreicht und des Kriegs dämonischen Zauber am glänzendsten
ausstrahlt, fühlt zugleich das Weh des vergänglichen Lebens am tiefsten.
Die Schatten der Schwermuth liegen über seiner leuchtenden Gestalt. Dem
Lykaon, der, schon einmal von ihm gefangen und begnadigt, von Neuem in
seine unnahbaren Hände gefallen ist und um sein Leben steht, erwidert er
düster: "was jammerst du? auch Patroklos ist gestorben und war mehr als
du. Siehst du nicht wie schön und groß ich bin? Sohn eines herrlichen
Vaters und einer unsterblichen Mutter. Aber doch erwartet mich Tod und
Moira. Es wird eine Eos, ein Mittag oder ein Abend kommen, wo auch
mein Leben Einer im Ares raubt mit dem Speer oder mit dem Pfeil."

So tief fühlt der Sänger die Melancholie unsres flüchtigen, schmerzvollen
Daseins, daß selbst die ätherische Heiterkeit der Götterwelt für einen Augen¬
blick getrübt wird an jener unendlich rührenden und erhabenen Stelle, wo
Aedilis unsterbliche Rosse um den Tod des Patroklos auf dem Schlacht¬
felde trauern. Soviel auch der Wagenlenker Automedon sie ermuntert, bald
mit der Peitsche, bald mit sanften Worten und Drohungen: sie wollen weder
zurück zu den Schiffen noch in den Kampf, sondern stehen unbeweglich wie
eine Säule auf dem Grabe eines Mannes oder einer Frau, die Köpfe zur
Erde gebeugt, und über das Joch fällt zu beiden Seiten die Mähne herab,
von heißen Thränen benetzt. Das bewegt selbst Kronion zum Mitleid. Er


Baders, die, zwei auf einmal fallend, den Greis ohne Erben zurücklassen;
Zwillingsbrüder, von demselben Gegner nebeneinander getödtet wie zwei Lö¬
wen , die lange mit einander im Gebirge auf Raub ausgezogen sind, bis sie
selbst dem Beil der Männer erliegen. Protesilaos, der eben vermählte, dessen
junge Gattin von allen Griechenfrauen zuerst Wittwe wurde. Als er vor
den übrigen Achäern vom Schiff ans Land sprang, tödtete ihn ein barbari-
scher Mann, und seitdem deckte ihn schon lange die schwarze Erde. Einen
gastlichen Mann, der an der Landstraße sein Haus hatte, erlegt Diomedes,
und Keiner von allen, die er je aufgenommen, ist zur Hand ihm das Ver¬
derben abzuwehren. Hier ein reicher Milesier. der wie ein Mädchen in den
Krieg ging, der thörichte, und doch half ihm sein Gold Nichts, sondern Achill
erschlug ihn im Fluß und erbeutete sein Gold. Dort schläft ein Thrakier
den ehernen Schlaf, fern von der noch ungenossenen Gattin, die er doch so
theuer erkauft hatte: erst 100 Rinder gab er und dann versprach er noch
1000 Ziegen und Schafe, die ihm in zahlloser Menge auf der Weide waren.
Nun aber hat ihm Agamemnon die Waffen abgezogen und trägt sie
von dannen. An die tragische Spitze des Ganzen, Aedilis Schmerz
um seinen Patroklos. an den namenlosen Jammer des Priamos. an
Andromache's Klage brauch' ich nicht zu erinnern. Der göttliche Petite,
der unter allen Helden von Troja am nächsten an die Herrlichkeit der Un¬
sterblichen heranreicht und des Kriegs dämonischen Zauber am glänzendsten
ausstrahlt, fühlt zugleich das Weh des vergänglichen Lebens am tiefsten.
Die Schatten der Schwermuth liegen über seiner leuchtenden Gestalt. Dem
Lykaon, der, schon einmal von ihm gefangen und begnadigt, von Neuem in
seine unnahbaren Hände gefallen ist und um sein Leben steht, erwidert er
düster: „was jammerst du? auch Patroklos ist gestorben und war mehr als
du. Siehst du nicht wie schön und groß ich bin? Sohn eines herrlichen
Vaters und einer unsterblichen Mutter. Aber doch erwartet mich Tod und
Moira. Es wird eine Eos, ein Mittag oder ein Abend kommen, wo auch
mein Leben Einer im Ares raubt mit dem Speer oder mit dem Pfeil."

So tief fühlt der Sänger die Melancholie unsres flüchtigen, schmerzvollen
Daseins, daß selbst die ätherische Heiterkeit der Götterwelt für einen Augen¬
blick getrübt wird an jener unendlich rührenden und erhabenen Stelle, wo
Aedilis unsterbliche Rosse um den Tod des Patroklos auf dem Schlacht¬
felde trauern. Soviel auch der Wagenlenker Automedon sie ermuntert, bald
mit der Peitsche, bald mit sanften Worten und Drohungen: sie wollen weder
zurück zu den Schiffen noch in den Kampf, sondern stehen unbeweglich wie
eine Säule auf dem Grabe eines Mannes oder einer Frau, die Köpfe zur
Erde gebeugt, und über das Joch fällt zu beiden Seiten die Mähne herab,
von heißen Thränen benetzt. Das bewegt selbst Kronion zum Mitleid. Er


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[0388] Baders, die, zwei auf einmal fallend, den Greis ohne Erben zurücklassen; Zwillingsbrüder, von demselben Gegner nebeneinander getödtet wie zwei Lö¬ wen , die lange mit einander im Gebirge auf Raub ausgezogen sind, bis sie selbst dem Beil der Männer erliegen. Protesilaos, der eben vermählte, dessen junge Gattin von allen Griechenfrauen zuerst Wittwe wurde. Als er vor den übrigen Achäern vom Schiff ans Land sprang, tödtete ihn ein barbari- scher Mann, und seitdem deckte ihn schon lange die schwarze Erde. Einen gastlichen Mann, der an der Landstraße sein Haus hatte, erlegt Diomedes, und Keiner von allen, die er je aufgenommen, ist zur Hand ihm das Ver¬ derben abzuwehren. Hier ein reicher Milesier. der wie ein Mädchen in den Krieg ging, der thörichte, und doch half ihm sein Gold Nichts, sondern Achill erschlug ihn im Fluß und erbeutete sein Gold. Dort schläft ein Thrakier den ehernen Schlaf, fern von der noch ungenossenen Gattin, die er doch so theuer erkauft hatte: erst 100 Rinder gab er und dann versprach er noch 1000 Ziegen und Schafe, die ihm in zahlloser Menge auf der Weide waren. Nun aber hat ihm Agamemnon die Waffen abgezogen und trägt sie von dannen. An die tragische Spitze des Ganzen, Aedilis Schmerz um seinen Patroklos. an den namenlosen Jammer des Priamos. an Andromache's Klage brauch' ich nicht zu erinnern. Der göttliche Petite, der unter allen Helden von Troja am nächsten an die Herrlichkeit der Un¬ sterblichen heranreicht und des Kriegs dämonischen Zauber am glänzendsten ausstrahlt, fühlt zugleich das Weh des vergänglichen Lebens am tiefsten. Die Schatten der Schwermuth liegen über seiner leuchtenden Gestalt. Dem Lykaon, der, schon einmal von ihm gefangen und begnadigt, von Neuem in seine unnahbaren Hände gefallen ist und um sein Leben steht, erwidert er düster: „was jammerst du? auch Patroklos ist gestorben und war mehr als du. Siehst du nicht wie schön und groß ich bin? Sohn eines herrlichen Vaters und einer unsterblichen Mutter. Aber doch erwartet mich Tod und Moira. Es wird eine Eos, ein Mittag oder ein Abend kommen, wo auch mein Leben Einer im Ares raubt mit dem Speer oder mit dem Pfeil." So tief fühlt der Sänger die Melancholie unsres flüchtigen, schmerzvollen Daseins, daß selbst die ätherische Heiterkeit der Götterwelt für einen Augen¬ blick getrübt wird an jener unendlich rührenden und erhabenen Stelle, wo Aedilis unsterbliche Rosse um den Tod des Patroklos auf dem Schlacht¬ felde trauern. Soviel auch der Wagenlenker Automedon sie ermuntert, bald mit der Peitsche, bald mit sanften Worten und Drohungen: sie wollen weder zurück zu den Schiffen noch in den Kampf, sondern stehen unbeweglich wie eine Säule auf dem Grabe eines Mannes oder einer Frau, die Köpfe zur Erde gebeugt, und über das Joch fällt zu beiden Seiten die Mähne herab, von heißen Thränen benetzt. Das bewegt selbst Kronion zum Mitleid. Er

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/388>, abgerufen am 26.06.2024.