Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

die Kniee, bieten Lösegeld, suchen für ihre Jugend, ihre Aeltern und Ange¬
hörigen Mitleid zu erwecken. Einmal ist der sanfte Menelaos fast gerührt,
da ruft ihm Agamemnon zu: "guter Menelaos, was bist du so zärtlich? wahr¬
lich, die Troer haben es um dich verdient. Keiner von denen entfliehe jähem
Verderben und unseren Händen, auch nicht das Kind im Mutterleibe, son¬
dern alle zusammen in Ilios sollen zu Grunde gehen unbeklagt und spurlos."
Noch gilt der Hohn über den fallenden und getödteten Feind nicht für un¬
ziemlich. Hektor höhnt den Patroklos und Achill den Hektor. Zu letzterem,
als er eben geendet hat, kommen die Achäer gelaufen; keiner, der ihm nicht
noch eine Wunde versetzte, und einer sprach zum andern: "o wie viel sanfter
ist Hektor jetzt anzufassen als da er die Schiffe anzündete." Dem erlegten
Feinde Rüstung und Waffen abzunehmen ist das Geringste und gehört zur
Ehre des Siegs. Aber dem Patroklos will Hektor den Kopf abschneiden
und auf einen Pfahl stecken, den Körper aber den Hunden vorwerfen.
Dem entspricht Aedilis furchtbare Rache, der, nicht zufrieden mit der grau¬
samen Mißhandlung der Leiche, noch 12 gefangene Jünglinge auf dem Grabe
des Freundes schlachtet. Auch anderer Troer schont er nicht. Wenn er vor¬
her manchem das Leben schenkte und ihn gegen Lösegeld in seine Heimath
entließ, so läßt er nun keinen, den ein Gott in seine Hand gibt, entfliehen.
Die Leiche des Lykaon packt er am Fuß, schleudert sie in den Fluß und ruft:
"da liege unter den Fischen, die deine Wunde lecken werden. Deine Mutter
wird dich nicht auf die Bahre legen und beweinen, der Skamander wird dich
zum weiten Busen des Meeres tragen. Aufspringend wird da ein Fisch die
schwarze Welle kräuseln, der das weiße Fett Lykaons gegessen hat." Dieser
dämonischen Wildheit, die durch einen Zug melancholischer Ironie veredelt
wird, ist die Rohheit des Oileussohnes Ajas nicht gewachsen: er wirft den
abgeschnittenen Kopf seines Gegners wie einen Ball durch die Menge, daß
er dem Hektor vor die Füße fällt. Das ist der grimmige ruchlose Ares.'

Gedenken wir aber daneben so mancher Züge edler Menschlichkeit,
dervn milde Wärme auch die schneidende Luft des Krieges bisweilen versöh¬
nend durchbricht: vor Allem jener Begegnung des Diomedes mit dem Ly-
kier Glaukos, die sich als Gastfreunde von den Großvätern her erkennen,
einander herzlich die Hände reichen, ihre Rüstungen und Waffen (goldne um
eherne) austauschen und sich verabreden, einander im Handgemenge auszu¬
weichen. Hier trägt die ritterliche Sitte, nicht stumm und unbekannt auf
einander loszuschlagen, sondern Namen, Geschlecht und Heimath, oft auch
die weitere Lebensgeschichte einander zu berichten, gleichsam die Ebenbürtigkeit
festzustellen, ehe man sich mit den Waffen mißt, ihre lieblichste Frucht. Dio¬
medes, von einer Ahnung bewegt, daß des Gegners Person ihm heilig sein
könne, wirft die Frage auf, ob der Unbekannte vielleicht einer der Unsterb-


die Kniee, bieten Lösegeld, suchen für ihre Jugend, ihre Aeltern und Ange¬
hörigen Mitleid zu erwecken. Einmal ist der sanfte Menelaos fast gerührt,
da ruft ihm Agamemnon zu: „guter Menelaos, was bist du so zärtlich? wahr¬
lich, die Troer haben es um dich verdient. Keiner von denen entfliehe jähem
Verderben und unseren Händen, auch nicht das Kind im Mutterleibe, son¬
dern alle zusammen in Ilios sollen zu Grunde gehen unbeklagt und spurlos."
Noch gilt der Hohn über den fallenden und getödteten Feind nicht für un¬
ziemlich. Hektor höhnt den Patroklos und Achill den Hektor. Zu letzterem,
als er eben geendet hat, kommen die Achäer gelaufen; keiner, der ihm nicht
noch eine Wunde versetzte, und einer sprach zum andern: „o wie viel sanfter
ist Hektor jetzt anzufassen als da er die Schiffe anzündete." Dem erlegten
Feinde Rüstung und Waffen abzunehmen ist das Geringste und gehört zur
Ehre des Siegs. Aber dem Patroklos will Hektor den Kopf abschneiden
und auf einen Pfahl stecken, den Körper aber den Hunden vorwerfen.
Dem entspricht Aedilis furchtbare Rache, der, nicht zufrieden mit der grau¬
samen Mißhandlung der Leiche, noch 12 gefangene Jünglinge auf dem Grabe
des Freundes schlachtet. Auch anderer Troer schont er nicht. Wenn er vor¬
her manchem das Leben schenkte und ihn gegen Lösegeld in seine Heimath
entließ, so läßt er nun keinen, den ein Gott in seine Hand gibt, entfliehen.
Die Leiche des Lykaon packt er am Fuß, schleudert sie in den Fluß und ruft:
„da liege unter den Fischen, die deine Wunde lecken werden. Deine Mutter
wird dich nicht auf die Bahre legen und beweinen, der Skamander wird dich
zum weiten Busen des Meeres tragen. Aufspringend wird da ein Fisch die
schwarze Welle kräuseln, der das weiße Fett Lykaons gegessen hat." Dieser
dämonischen Wildheit, die durch einen Zug melancholischer Ironie veredelt
wird, ist die Rohheit des Oileussohnes Ajas nicht gewachsen: er wirft den
abgeschnittenen Kopf seines Gegners wie einen Ball durch die Menge, daß
er dem Hektor vor die Füße fällt. Das ist der grimmige ruchlose Ares.'

Gedenken wir aber daneben so mancher Züge edler Menschlichkeit,
dervn milde Wärme auch die schneidende Luft des Krieges bisweilen versöh¬
nend durchbricht: vor Allem jener Begegnung des Diomedes mit dem Ly-
kier Glaukos, die sich als Gastfreunde von den Großvätern her erkennen,
einander herzlich die Hände reichen, ihre Rüstungen und Waffen (goldne um
eherne) austauschen und sich verabreden, einander im Handgemenge auszu¬
weichen. Hier trägt die ritterliche Sitte, nicht stumm und unbekannt auf
einander loszuschlagen, sondern Namen, Geschlecht und Heimath, oft auch
die weitere Lebensgeschichte einander zu berichten, gleichsam die Ebenbürtigkeit
festzustellen, ehe man sich mit den Waffen mißt, ihre lieblichste Frucht. Dio¬
medes, von einer Ahnung bewegt, daß des Gegners Person ihm heilig sein
könne, wirft die Frage auf, ob der Unbekannte vielleicht einer der Unsterb-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0385" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/125629"/>
          <p xml:id="ID_1340" prev="#ID_1339"> die Kniee, bieten Lösegeld, suchen für ihre Jugend, ihre Aeltern und Ange¬<lb/>
hörigen Mitleid zu erwecken. Einmal ist der sanfte Menelaos fast gerührt,<lb/>
da ruft ihm Agamemnon zu: &#x201E;guter Menelaos, was bist du so zärtlich? wahr¬<lb/>
lich, die Troer haben es um dich verdient. Keiner von denen entfliehe jähem<lb/>
Verderben und unseren Händen, auch nicht das Kind im Mutterleibe, son¬<lb/>
dern alle zusammen in Ilios sollen zu Grunde gehen unbeklagt und spurlos."<lb/>
Noch gilt der Hohn über den fallenden und getödteten Feind nicht für un¬<lb/>
ziemlich. Hektor höhnt den Patroklos und Achill den Hektor. Zu letzterem,<lb/>
als er eben geendet hat, kommen die Achäer gelaufen; keiner, der ihm nicht<lb/>
noch eine Wunde versetzte, und einer sprach zum andern: &#x201E;o wie viel sanfter<lb/>
ist Hektor jetzt anzufassen als da er die Schiffe anzündete." Dem erlegten<lb/>
Feinde Rüstung und Waffen abzunehmen ist das Geringste und gehört zur<lb/>
Ehre des Siegs. Aber dem Patroklos will Hektor den Kopf abschneiden<lb/>
und auf einen Pfahl stecken, den Körper aber den Hunden vorwerfen.<lb/>
Dem entspricht Aedilis furchtbare Rache, der, nicht zufrieden mit der grau¬<lb/>
samen Mißhandlung der Leiche, noch 12 gefangene Jünglinge auf dem Grabe<lb/>
des Freundes schlachtet. Auch anderer Troer schont er nicht. Wenn er vor¬<lb/>
her manchem das Leben schenkte und ihn gegen Lösegeld in seine Heimath<lb/>
entließ, so läßt er nun keinen, den ein Gott in seine Hand gibt, entfliehen.<lb/>
Die Leiche des Lykaon packt er am Fuß, schleudert sie in den Fluß und ruft:<lb/>
&#x201E;da liege unter den Fischen, die deine Wunde lecken werden. Deine Mutter<lb/>
wird dich nicht auf die Bahre legen und beweinen, der Skamander wird dich<lb/>
zum weiten Busen des Meeres tragen. Aufspringend wird da ein Fisch die<lb/>
schwarze Welle kräuseln, der das weiße Fett Lykaons gegessen hat." Dieser<lb/>
dämonischen Wildheit, die durch einen Zug melancholischer Ironie veredelt<lb/>
wird, ist die Rohheit des Oileussohnes Ajas nicht gewachsen: er wirft den<lb/>
abgeschnittenen Kopf seines Gegners wie einen Ball durch die Menge, daß<lb/>
er dem Hektor vor die Füße fällt.  Das ist der grimmige ruchlose Ares.'</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1341" next="#ID_1342"> Gedenken wir aber daneben so mancher Züge edler Menschlichkeit,<lb/>
dervn milde Wärme auch die schneidende Luft des Krieges bisweilen versöh¬<lb/>
nend durchbricht: vor Allem jener Begegnung des Diomedes mit dem Ly-<lb/>
kier Glaukos, die sich als Gastfreunde von den Großvätern her erkennen,<lb/>
einander herzlich die Hände reichen, ihre Rüstungen und Waffen (goldne um<lb/>
eherne) austauschen und sich verabreden, einander im Handgemenge auszu¬<lb/>
weichen. Hier trägt die ritterliche Sitte, nicht stumm und unbekannt auf<lb/>
einander loszuschlagen, sondern Namen, Geschlecht und Heimath, oft auch<lb/>
die weitere Lebensgeschichte einander zu berichten, gleichsam die Ebenbürtigkeit<lb/>
festzustellen, ehe man sich mit den Waffen mißt, ihre lieblichste Frucht. Dio¬<lb/>
medes, von einer Ahnung bewegt, daß des Gegners Person ihm heilig sein<lb/>
könne, wirft die Frage auf, ob der Unbekannte vielleicht einer der Unsterb-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0385] die Kniee, bieten Lösegeld, suchen für ihre Jugend, ihre Aeltern und Ange¬ hörigen Mitleid zu erwecken. Einmal ist der sanfte Menelaos fast gerührt, da ruft ihm Agamemnon zu: „guter Menelaos, was bist du so zärtlich? wahr¬ lich, die Troer haben es um dich verdient. Keiner von denen entfliehe jähem Verderben und unseren Händen, auch nicht das Kind im Mutterleibe, son¬ dern alle zusammen in Ilios sollen zu Grunde gehen unbeklagt und spurlos." Noch gilt der Hohn über den fallenden und getödteten Feind nicht für un¬ ziemlich. Hektor höhnt den Patroklos und Achill den Hektor. Zu letzterem, als er eben geendet hat, kommen die Achäer gelaufen; keiner, der ihm nicht noch eine Wunde versetzte, und einer sprach zum andern: „o wie viel sanfter ist Hektor jetzt anzufassen als da er die Schiffe anzündete." Dem erlegten Feinde Rüstung und Waffen abzunehmen ist das Geringste und gehört zur Ehre des Siegs. Aber dem Patroklos will Hektor den Kopf abschneiden und auf einen Pfahl stecken, den Körper aber den Hunden vorwerfen. Dem entspricht Aedilis furchtbare Rache, der, nicht zufrieden mit der grau¬ samen Mißhandlung der Leiche, noch 12 gefangene Jünglinge auf dem Grabe des Freundes schlachtet. Auch anderer Troer schont er nicht. Wenn er vor¬ her manchem das Leben schenkte und ihn gegen Lösegeld in seine Heimath entließ, so läßt er nun keinen, den ein Gott in seine Hand gibt, entfliehen. Die Leiche des Lykaon packt er am Fuß, schleudert sie in den Fluß und ruft: „da liege unter den Fischen, die deine Wunde lecken werden. Deine Mutter wird dich nicht auf die Bahre legen und beweinen, der Skamander wird dich zum weiten Busen des Meeres tragen. Aufspringend wird da ein Fisch die schwarze Welle kräuseln, der das weiße Fett Lykaons gegessen hat." Dieser dämonischen Wildheit, die durch einen Zug melancholischer Ironie veredelt wird, ist die Rohheit des Oileussohnes Ajas nicht gewachsen: er wirft den abgeschnittenen Kopf seines Gegners wie einen Ball durch die Menge, daß er dem Hektor vor die Füße fällt. Das ist der grimmige ruchlose Ares.' Gedenken wir aber daneben so mancher Züge edler Menschlichkeit, dervn milde Wärme auch die schneidende Luft des Krieges bisweilen versöh¬ nend durchbricht: vor Allem jener Begegnung des Diomedes mit dem Ly- kier Glaukos, die sich als Gastfreunde von den Großvätern her erkennen, einander herzlich die Hände reichen, ihre Rüstungen und Waffen (goldne um eherne) austauschen und sich verabreden, einander im Handgemenge auszu¬ weichen. Hier trägt die ritterliche Sitte, nicht stumm und unbekannt auf einander loszuschlagen, sondern Namen, Geschlecht und Heimath, oft auch die weitere Lebensgeschichte einander zu berichten, gleichsam die Ebenbürtigkeit festzustellen, ehe man sich mit den Waffen mißt, ihre lieblichste Frucht. Dio¬ medes, von einer Ahnung bewegt, daß des Gegners Person ihm heilig sein könne, wirft die Frage auf, ob der Unbekannte vielleicht einer der Unsterb-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/385
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/385>, abgerufen am 26.06.2024.