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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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Vaterland zu erretten." Und mitten in höchster Bedrängniß ist es
das Ehrgefühl, welches den wankenden Helden von Neuem spornt. Dio-
medes, dessen herrlicher Wahlspruch "nicht läßt mich flüchten Pallas Athene"
der Helligkeit seines Sinnes entspricht, denkt mit Entsetzen daran, daß Hektor
künftig einmal'unter den Troern sagen könne: der Tydide ist vor mir zu
den Schiffen gcflohn: "dann klaffe mir weit die Erde auf", fügt er hinzu.
Agamenmons lässiger Ausspruch, der an Heimkehr denkt:


nicht ja Tadel verdients der Gefahr zu entrinnen, bei Nacht auch:
besser wer fliehend entrann der Gefahr, als wen sie ereilet,

empört selbst den Odysseus, der den Gedanken an so unrühmlichen Rückzug
eines Königs ganz unwürdig findet. Der Lykier Sarpedon, der übrigens in
Sehnsucht nach seiner schönen behaglichen Heimath dem Kriege auch nicht
hold ist, weiß besser was er seiner Stellung schuldig ist. "Wir dürfen nicht
umsonst die ersten in Lykien sein", sagt er zu Glaukos, "bevorzugt mit Ehren¬
sitzen, Braten und mehreren Bechern, von allen wie Götter geehrt. Man soll
von uns sagen: nicht ruhmlos herrschen unsre Könige in Lykien. Sie essen
fette Schafe und trinken süßen Wein, aber ihre Kraft ist auch herrlich, denn
sie kämpfen unter den ersten". Dem gemeinen Mann aber ruft Ajas zu:


von ehrliebenden Männern sind mehre gerettet als fallen,
aber von fliehenden hebt nicht Rubri sich empor noch Abwehr.

Es ist ein treuherziger kameradschaftlicher Ton unter den Helden,
wie unter Gleichen. Durch freies Gelöbniß zu dem gemeinsamen Rachekrieg
verbunden, nur für die Dauer desselben dem erwählten Feldherrn unterge¬
ordnet, kennen sie vor der Hand keine Eifersucht und keinen Sondergeist, bis
die Selbstsucht und Ungerechtigkeit Agamenmons das Zerwürfniß mit Achill
verschuldet. Beide erkennen zu spät ihre Ate und die verhängnißvolle Wir¬
kung der bittren Eris, die anfangs wie Honig sich dem erregten Gemüth ein¬
schleicht. Hier berühren wir den eigentlichen Lebensnerv des Gedichtes. Wei¬
tere Spaltungen fügt erst das spätere Epos hinzu.

Dem einzelnen Fürsten haben die Landsleute bei Vermeidung schwerer
Buße und Schande Heeresfolge zu leisten gehabt, doch hat ein Sikyonier
es vorgezogen, sich durch das Geschenk einer schönen Stute von Agamemnon
loszukaufen, und Hermes gibt sich einmal als den jüngsten von sieben Brü¬
dern aus, den das Loos getroffen habe in den Krieg zu ziehen.

Herzhaft sagt man sich die Wahrheit; kränkende Worte auch des Ober¬
feldherrn, wenn sie unverdient sind, werden lebhaft abgewiesen und gern zu¬
rückgenommen. Ganz gutmüthig läßt der liebenswürdige Diomedes eine
lange überflüssige Ermahnung Agamenmons über sich ergehen, ohne doch dem
Freimuth etwas zu vergeben, der den Tyrannengelüsten des Atriden gegen¬
über auf seiner Hut ist.


Grcnzl'oder 7. 1871, 48

Vaterland zu erretten." Und mitten in höchster Bedrängniß ist es
das Ehrgefühl, welches den wankenden Helden von Neuem spornt. Dio-
medes, dessen herrlicher Wahlspruch „nicht läßt mich flüchten Pallas Athene"
der Helligkeit seines Sinnes entspricht, denkt mit Entsetzen daran, daß Hektor
künftig einmal'unter den Troern sagen könne: der Tydide ist vor mir zu
den Schiffen gcflohn: „dann klaffe mir weit die Erde auf", fügt er hinzu.
Agamenmons lässiger Ausspruch, der an Heimkehr denkt:


nicht ja Tadel verdients der Gefahr zu entrinnen, bei Nacht auch:
besser wer fliehend entrann der Gefahr, als wen sie ereilet,

empört selbst den Odysseus, der den Gedanken an so unrühmlichen Rückzug
eines Königs ganz unwürdig findet. Der Lykier Sarpedon, der übrigens in
Sehnsucht nach seiner schönen behaglichen Heimath dem Kriege auch nicht
hold ist, weiß besser was er seiner Stellung schuldig ist. „Wir dürfen nicht
umsonst die ersten in Lykien sein", sagt er zu Glaukos, „bevorzugt mit Ehren¬
sitzen, Braten und mehreren Bechern, von allen wie Götter geehrt. Man soll
von uns sagen: nicht ruhmlos herrschen unsre Könige in Lykien. Sie essen
fette Schafe und trinken süßen Wein, aber ihre Kraft ist auch herrlich, denn
sie kämpfen unter den ersten". Dem gemeinen Mann aber ruft Ajas zu:


von ehrliebenden Männern sind mehre gerettet als fallen,
aber von fliehenden hebt nicht Rubri sich empor noch Abwehr.

Es ist ein treuherziger kameradschaftlicher Ton unter den Helden,
wie unter Gleichen. Durch freies Gelöbniß zu dem gemeinsamen Rachekrieg
verbunden, nur für die Dauer desselben dem erwählten Feldherrn unterge¬
ordnet, kennen sie vor der Hand keine Eifersucht und keinen Sondergeist, bis
die Selbstsucht und Ungerechtigkeit Agamenmons das Zerwürfniß mit Achill
verschuldet. Beide erkennen zu spät ihre Ate und die verhängnißvolle Wir¬
kung der bittren Eris, die anfangs wie Honig sich dem erregten Gemüth ein¬
schleicht. Hier berühren wir den eigentlichen Lebensnerv des Gedichtes. Wei¬
tere Spaltungen fügt erst das spätere Epos hinzu.

Dem einzelnen Fürsten haben die Landsleute bei Vermeidung schwerer
Buße und Schande Heeresfolge zu leisten gehabt, doch hat ein Sikyonier
es vorgezogen, sich durch das Geschenk einer schönen Stute von Agamemnon
loszukaufen, und Hermes gibt sich einmal als den jüngsten von sieben Brü¬
dern aus, den das Loos getroffen habe in den Krieg zu ziehen.

Herzhaft sagt man sich die Wahrheit; kränkende Worte auch des Ober¬
feldherrn, wenn sie unverdient sind, werden lebhaft abgewiesen und gern zu¬
rückgenommen. Ganz gutmüthig läßt der liebenswürdige Diomedes eine
lange überflüssige Ermahnung Agamenmons über sich ergehen, ohne doch dem
Freimuth etwas zu vergeben, der den Tyrannengelüsten des Atriden gegen¬
über auf seiner Hut ist.


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[0381] Vaterland zu erretten." Und mitten in höchster Bedrängniß ist es das Ehrgefühl, welches den wankenden Helden von Neuem spornt. Dio- medes, dessen herrlicher Wahlspruch „nicht läßt mich flüchten Pallas Athene" der Helligkeit seines Sinnes entspricht, denkt mit Entsetzen daran, daß Hektor künftig einmal'unter den Troern sagen könne: der Tydide ist vor mir zu den Schiffen gcflohn: „dann klaffe mir weit die Erde auf", fügt er hinzu. Agamenmons lässiger Ausspruch, der an Heimkehr denkt: nicht ja Tadel verdients der Gefahr zu entrinnen, bei Nacht auch: besser wer fliehend entrann der Gefahr, als wen sie ereilet, empört selbst den Odysseus, der den Gedanken an so unrühmlichen Rückzug eines Königs ganz unwürdig findet. Der Lykier Sarpedon, der übrigens in Sehnsucht nach seiner schönen behaglichen Heimath dem Kriege auch nicht hold ist, weiß besser was er seiner Stellung schuldig ist. „Wir dürfen nicht umsonst die ersten in Lykien sein", sagt er zu Glaukos, „bevorzugt mit Ehren¬ sitzen, Braten und mehreren Bechern, von allen wie Götter geehrt. Man soll von uns sagen: nicht ruhmlos herrschen unsre Könige in Lykien. Sie essen fette Schafe und trinken süßen Wein, aber ihre Kraft ist auch herrlich, denn sie kämpfen unter den ersten". Dem gemeinen Mann aber ruft Ajas zu: von ehrliebenden Männern sind mehre gerettet als fallen, aber von fliehenden hebt nicht Rubri sich empor noch Abwehr. Es ist ein treuherziger kameradschaftlicher Ton unter den Helden, wie unter Gleichen. Durch freies Gelöbniß zu dem gemeinsamen Rachekrieg verbunden, nur für die Dauer desselben dem erwählten Feldherrn unterge¬ ordnet, kennen sie vor der Hand keine Eifersucht und keinen Sondergeist, bis die Selbstsucht und Ungerechtigkeit Agamenmons das Zerwürfniß mit Achill verschuldet. Beide erkennen zu spät ihre Ate und die verhängnißvolle Wir¬ kung der bittren Eris, die anfangs wie Honig sich dem erregten Gemüth ein¬ schleicht. Hier berühren wir den eigentlichen Lebensnerv des Gedichtes. Wei¬ tere Spaltungen fügt erst das spätere Epos hinzu. Dem einzelnen Fürsten haben die Landsleute bei Vermeidung schwerer Buße und Schande Heeresfolge zu leisten gehabt, doch hat ein Sikyonier es vorgezogen, sich durch das Geschenk einer schönen Stute von Agamemnon loszukaufen, und Hermes gibt sich einmal als den jüngsten von sieben Brü¬ dern aus, den das Loos getroffen habe in den Krieg zu ziehen. Herzhaft sagt man sich die Wahrheit; kränkende Worte auch des Ober¬ feldherrn, wenn sie unverdient sind, werden lebhaft abgewiesen und gern zu¬ rückgenommen. Ganz gutmüthig läßt der liebenswürdige Diomedes eine lange überflüssige Ermahnung Agamenmons über sich ergehen, ohne doch dem Freimuth etwas zu vergeben, der den Tyrannengelüsten des Atriden gegen¬ über auf seiner Hut ist. Grcnzl'oder 7. 1871, 48

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/381>, abgerufen am 26.06.2024.