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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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des Patroklos zerren sie von beiden Seiten wie Gerber eine Rindshaut.
Auf größerem Raume erscheinen beide Heere in ihrer gleichmäßigen blutigen
Arbeit wie Schnitter, die auf üppigem Weizenfeld von entgegengesetzten
Seiten aufeinander zuschreitend dichte Halme niedermähen und eine Furche
nach der andern ziehen. Und am friedlichsten stellt sich das volle Gleich¬
gewicht der Schlacht vor die Phantasie. So genau wie eine redliche Wittwe,
um ihre Kinder zu ernähren, den Kunden Wolle abwägt, oder wie in der
Hand eines wohlgelernten Zimmermanns die Schnur den Schiffshalter richtet,
so haarscharf stand die Wage der Entscheidung auf'beiden Seiten gleich.

Waren doch die Griechen, welche der ionische Rhapsode mit seinen Schlacht¬
beschreibungen entzückte, keine rohen Naturmenschen mehr, die von dem Un¬
geheuren allein erhoben wurden, nur in den Kraftäußerungen elementarer
oder thierischer Natur würdigen Stoff poetischer Verherrlichung erkannten.
Sie wohnten in wohlgeordneten Gemeinden und Städten, unter dem Schutze
von Obrigkeit und Gesetz, vom Band der Familie warm umschlungen, der
Segnungen friedlicher Cultur, anmuthiger Kunst und gefälliger Geselligkeit
froh genießend, von starken sittlichen Ueberzeugungen gehalten und von feinen
Empfindungen des Gemüthes bewegt. Die edle Menschlichkeit, welche
dem homerischen Epos seinen unvergänglichen Werth gibt, verklärt auch die
Schrecken des Krieges, pulsirt durch das Uebergewaltige hindurch und versöhnt
mit den Resten wilderer Denkungsart, die auch eine ausgleichende Ueberar-
beitung nicht weggeglättet hat.

Gleich der allgemeine Ausspruch des greisen Nestor über den Krieg zeigt
wie man über ihn dachte:


ohne Geschlecht und Gesetz, ohn' eigenen Heerd ist jener,
welcher des Kriegs sich erfreut, der des Volkes Blüthe dahinrafft.

Hier die Ehre der Nation, dort des Baterlandes und selbst des geraub¬
ten Besitzthumes mannhafte Vertheidigung sind die beiden durchschlagenden
Motive des langen Kampfes. Während das Recht und die Zukunft auf
Seiten der Angreifer ist, fühlt der Sänger edel genug, das Mitleid dem tragi¬
schen Geschick der Feinde zuzuwenden, die um des Frevels eines Einzelnen
willen dem sicheren Untergange geweiht ihre Selbständigkeit so hartnäckig ver¬
theidigen. Auch in ihre Seele hinein empfindet er: werden sie schnöde und
treulos, des Krieges unersättlich gescholten, so heißen sie doch auch wacker,
stolz und großherzig; diese Anerkennung gerade adelt den Kampf. Beiderseits
sind Ehre, Ruhm, gute Nachrede im Leben und nach dem Tode, Treue und
Unterwerfung unter die Zwecke der Gesammtheit, die mächtigen Triebfedern
des einzelnen Kämpfers. Für Weiber und Kinder, für Haus und Hof kämpfend
zu sterben, bezeichnet Hektor als rühmlich, dem "ein Vorzeichen nur, gilt: das


des Patroklos zerren sie von beiden Seiten wie Gerber eine Rindshaut.
Auf größerem Raume erscheinen beide Heere in ihrer gleichmäßigen blutigen
Arbeit wie Schnitter, die auf üppigem Weizenfeld von entgegengesetzten
Seiten aufeinander zuschreitend dichte Halme niedermähen und eine Furche
nach der andern ziehen. Und am friedlichsten stellt sich das volle Gleich¬
gewicht der Schlacht vor die Phantasie. So genau wie eine redliche Wittwe,
um ihre Kinder zu ernähren, den Kunden Wolle abwägt, oder wie in der
Hand eines wohlgelernten Zimmermanns die Schnur den Schiffshalter richtet,
so haarscharf stand die Wage der Entscheidung auf'beiden Seiten gleich.

Waren doch die Griechen, welche der ionische Rhapsode mit seinen Schlacht¬
beschreibungen entzückte, keine rohen Naturmenschen mehr, die von dem Un¬
geheuren allein erhoben wurden, nur in den Kraftäußerungen elementarer
oder thierischer Natur würdigen Stoff poetischer Verherrlichung erkannten.
Sie wohnten in wohlgeordneten Gemeinden und Städten, unter dem Schutze
von Obrigkeit und Gesetz, vom Band der Familie warm umschlungen, der
Segnungen friedlicher Cultur, anmuthiger Kunst und gefälliger Geselligkeit
froh genießend, von starken sittlichen Ueberzeugungen gehalten und von feinen
Empfindungen des Gemüthes bewegt. Die edle Menschlichkeit, welche
dem homerischen Epos seinen unvergänglichen Werth gibt, verklärt auch die
Schrecken des Krieges, pulsirt durch das Uebergewaltige hindurch und versöhnt
mit den Resten wilderer Denkungsart, die auch eine ausgleichende Ueberar-
beitung nicht weggeglättet hat.

Gleich der allgemeine Ausspruch des greisen Nestor über den Krieg zeigt
wie man über ihn dachte:


ohne Geschlecht und Gesetz, ohn' eigenen Heerd ist jener,
welcher des Kriegs sich erfreut, der des Volkes Blüthe dahinrafft.

Hier die Ehre der Nation, dort des Baterlandes und selbst des geraub¬
ten Besitzthumes mannhafte Vertheidigung sind die beiden durchschlagenden
Motive des langen Kampfes. Während das Recht und die Zukunft auf
Seiten der Angreifer ist, fühlt der Sänger edel genug, das Mitleid dem tragi¬
schen Geschick der Feinde zuzuwenden, die um des Frevels eines Einzelnen
willen dem sicheren Untergange geweiht ihre Selbständigkeit so hartnäckig ver¬
theidigen. Auch in ihre Seele hinein empfindet er: werden sie schnöde und
treulos, des Krieges unersättlich gescholten, so heißen sie doch auch wacker,
stolz und großherzig; diese Anerkennung gerade adelt den Kampf. Beiderseits
sind Ehre, Ruhm, gute Nachrede im Leben und nach dem Tode, Treue und
Unterwerfung unter die Zwecke der Gesammtheit, die mächtigen Triebfedern
des einzelnen Kämpfers. Für Weiber und Kinder, für Haus und Hof kämpfend
zu sterben, bezeichnet Hektor als rühmlich, dem „ein Vorzeichen nur, gilt: das


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/380>, abgerufen am 26.06.2024.