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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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als die Partei des guerre ^ ontranee sich dachte. Nicht zum ersten Male
sieht Bordeaux ein französisches Parlament in seinen Mauern tagen. Hier
gab 1762 das Parlament seinen entscheidenden Ausspruch ab gegen die
Jesuiten, "die jede geistliche und weltliche Autorität zerstören". Aber eine Ver¬
sammlung wie die gegenwärtige hat weder Bordeaux noch Frankreich, noch
wohl die Welt jemals gesehen. Solch schwere Aufgabe hat noch keine aus
freier Volkswahl hervorgegangene Versammlung zu lösen gehabt. Sie soll
in wenigen Tagen dem Lande eine neue erträglich dauerbare Negierung
geben und dann den Frieden -- einen Frieden, welcher dem eitelsten Volte
der Welt das Schwerste zumuthet: die Selbsterkenntniß. Und diese pein¬
lichen Entschließungen sollen gefaßt werden inmitten einer Bevölkerung, welche
die bittere Nothwendigkeit der Lage nicht begreifen will, die drunten auf dem
Place de la Comedie vor dem Grand Theatre zu Tausenden pfeifend, heu¬
lend und johlend die Nationalgarten und die Eingänge zum Sitzungs¬
saal umwogt, und hier oben auf die Gallerien einige Dutzend ihrer er¬
lesensten Gesinnungsgenossen gesandt hat. Die phrygischen Mützen nicken
dämonisch herunter mit den Galgengesichtern ihrer Träger. Man gedenkt
unwillkührlich an die Nachfeier der Pariser Bluthochzett, die hier von dem
Gouverneur der Stadt 1572 abgehalten wurde und 2800 Hugenotten das
Leben kostete. Bis jetzt hat sich diese Plebs indessen über Erwarten ruhig
verhalten. Daß sie am Ende der ersten Sitzung, als man Garibaldi das
Wort nicht mehr geben wollte, in zorniges Geschrei ausbrach, daß sie den
großen Republikanern Victor Hugo und Louis Blanc ein paar Straßen-
haranguen nach der ersten Sitzung abnöthigte und sie zum Dank dafür nach
Hause trug, war ein verhältnißmäßig unschuldiger Scherz. Nur die blinde
Partciwuth mag verkennen, daß unter dem Druck aller dieser Verhältnisse,
die Constituante von Bordeaux bisher die weisesten Beschlüsse gefaßt hat.
Einstimmiger lebhafter Beifall hat dem Gouvernement der nationalen Ver¬
theidigung von Paris in der Person ihres Präsidenten und Hauptes Jules
Favre -- der in den wenigen Monaten um Jahre gealtert ist -- freudig
Decharge ertheilt, und dann dem Mann das bedrängte Ruder des Staats in
die Hand gegeben, dessen staatsmännische Erfahrung, dessen dem Vaterlande
in bedrängtester Lage geleisteten aufopfernden Dienste und dessen maßvolle
politische Gesinnung ihn allen übrigen Abgeordneten weit voranstellen, dem
alten Thiers.

Nach dem, was Thiers in den wenigen Tagen seiner Präsidentschaft ge¬
sprochen, gerathen und gethan hat, kann das Endergebniß der Verhandlungen
der Constituante nicht zweifelhaft fein. Man kann diese selbst aus der neuen
Ministerliste folgern, die Thiers mit Zustimmung des Hauses gebildet hat.
Fast alle Parteien sind darin vertreten: Dufaure, der alte Republikaner, der


als die Partei des guerre ^ ontranee sich dachte. Nicht zum ersten Male
sieht Bordeaux ein französisches Parlament in seinen Mauern tagen. Hier
gab 1762 das Parlament seinen entscheidenden Ausspruch ab gegen die
Jesuiten, „die jede geistliche und weltliche Autorität zerstören". Aber eine Ver¬
sammlung wie die gegenwärtige hat weder Bordeaux noch Frankreich, noch
wohl die Welt jemals gesehen. Solch schwere Aufgabe hat noch keine aus
freier Volkswahl hervorgegangene Versammlung zu lösen gehabt. Sie soll
in wenigen Tagen dem Lande eine neue erträglich dauerbare Negierung
geben und dann den Frieden — einen Frieden, welcher dem eitelsten Volte
der Welt das Schwerste zumuthet: die Selbsterkenntniß. Und diese pein¬
lichen Entschließungen sollen gefaßt werden inmitten einer Bevölkerung, welche
die bittere Nothwendigkeit der Lage nicht begreifen will, die drunten auf dem
Place de la Comedie vor dem Grand Theatre zu Tausenden pfeifend, heu¬
lend und johlend die Nationalgarten und die Eingänge zum Sitzungs¬
saal umwogt, und hier oben auf die Gallerien einige Dutzend ihrer er¬
lesensten Gesinnungsgenossen gesandt hat. Die phrygischen Mützen nicken
dämonisch herunter mit den Galgengesichtern ihrer Träger. Man gedenkt
unwillkührlich an die Nachfeier der Pariser Bluthochzett, die hier von dem
Gouverneur der Stadt 1572 abgehalten wurde und 2800 Hugenotten das
Leben kostete. Bis jetzt hat sich diese Plebs indessen über Erwarten ruhig
verhalten. Daß sie am Ende der ersten Sitzung, als man Garibaldi das
Wort nicht mehr geben wollte, in zorniges Geschrei ausbrach, daß sie den
großen Republikanern Victor Hugo und Louis Blanc ein paar Straßen-
haranguen nach der ersten Sitzung abnöthigte und sie zum Dank dafür nach
Hause trug, war ein verhältnißmäßig unschuldiger Scherz. Nur die blinde
Partciwuth mag verkennen, daß unter dem Druck aller dieser Verhältnisse,
die Constituante von Bordeaux bisher die weisesten Beschlüsse gefaßt hat.
Einstimmiger lebhafter Beifall hat dem Gouvernement der nationalen Ver¬
theidigung von Paris in der Person ihres Präsidenten und Hauptes Jules
Favre — der in den wenigen Monaten um Jahre gealtert ist — freudig
Decharge ertheilt, und dann dem Mann das bedrängte Ruder des Staats in
die Hand gegeben, dessen staatsmännische Erfahrung, dessen dem Vaterlande
in bedrängtester Lage geleisteten aufopfernden Dienste und dessen maßvolle
politische Gesinnung ihn allen übrigen Abgeordneten weit voranstellen, dem
alten Thiers.

Nach dem, was Thiers in den wenigen Tagen seiner Präsidentschaft ge¬
sprochen, gerathen und gethan hat, kann das Endergebniß der Verhandlungen
der Constituante nicht zweifelhaft fein. Man kann diese selbst aus der neuen
Ministerliste folgern, die Thiers mit Zustimmung des Hauses gebildet hat.
Fast alle Parteien sind darin vertreten: Dufaure, der alte Republikaner, der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/371>, abgerufen am 26.06.2024.