Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Zügel der provisorischen Herrschaft. Die letzten Ausgeburten der Gambetta-
schen Willruhr, die Decrete gegen die Wahlfreiheit und Wählbarkeit, die bis
an die Schwelle des Bürgerkrieges getriebene Widersetzlichkeit gegen die Aus¬
führung des Waffenstillstandes wurden mit energischer Hand weggefegt. Fast
die gesammte Presse Bordeaux, hierunter bekanntlich fast sämmtliche großen
Pariser Zeitungen, die mit der Regierung hierher übersiedelten, unterstützten
die republikanische Ordnung Simons aufs lebhafteste. Der Radicalismus
von Bordeaux sah die Unfehlbarkeit seines einäugigen Abgottes urplötzlich
schnöde desavouirt, und was das übelste war, die neue Regierung hatte sich
durch hinreichende Truppen gegen jeden Handstreich gesichert, gewann täglich
an Anhang im Lande, in der Stadt. Ein Gambetta'scher Präfect nach dem
andern befolgte das Beispiel seines Meisters, und rettete seine innerste Ueber¬
zeugung durch edle Abtretung seines Amtes an die brutale Gewalt.

Unter diesen Verhältnissen erfolgten am 8. Februar die Wahlen zur Con¬
stituante, am 12. deren Bereinigung. Die Wahlfreiheit, die Monsieur de
Bismarck verlangt hatte, war doch etwas reichlicher ausgefallen, als diejenige
des Musterrepudlikaners Gambetta. Die krassen Radicalen in Paris und
hier, in Marseille und Lyon, erfuhren zu ihrem namenlosen Schrecken, daß fast
drei Viertel der Versammlung, die hier tagen sollte, aus konservativen, ja
monarchischen Männern bestehen werde. Im Anfang blieb ihnen noch die
Hoffnung, das sei eitel preußischer Lug und Trug, der biedre Republikaner
sei in den vom Feinde besetzten Departements mit preußischen Bayonetten
von der Wahlurne vertrieben. Hunderte drängten sich an der Gare de la
Bastide, wo die Gleise der nördlichen und östlichen Bahnen einlaufen, wo
die Abgeordneten von jenseit der Demarcationslinie her, aus der preußischen
Knechtschaft eintreffen mußten, die Pariser, Liller und Versailler, die Elsasser
und Lothringer. Aber grade was der Radicalismus zu vernehmen erwartete,
vernahm er nicht. Im Gegentheil, die Wahlen waren in den von den
Preußen besetzten Landestheilen in exemplarischer Freiheit und Ordnung ver¬
laufen -- und trotzdem soviel Conservative, sapristi! Man revangirte sich
durch Straßendemonstrationen. Von der Gare de la Bastide, den Quai des
Queyries, Place Napoleon und die wundervolle große steinerne Brücke ent¬
lang standen Hunderte von Menschen, auch Frauen und Damen darunter
in großer Zahl, und die Mädchen der unteren Klassen, die bunten Kopf¬
tücher turbanartig ums Haupt gewunden. Unendlicher Jubel empfing die
Pariser Abgeordneten, namentlich Victor Hugo und Louis Blanc, später
Nochefort; begeistert geleitete man die Straßburger und Metzer zum letzten
Male in ein französisches Parlament.

Im Parlament selbst aber verliefen die Verhandlungen bisher ganz so,
wie die überwiegende conservative Mehrheit erwarten ließ, und ganz anders


Zügel der provisorischen Herrschaft. Die letzten Ausgeburten der Gambetta-
schen Willruhr, die Decrete gegen die Wahlfreiheit und Wählbarkeit, die bis
an die Schwelle des Bürgerkrieges getriebene Widersetzlichkeit gegen die Aus¬
führung des Waffenstillstandes wurden mit energischer Hand weggefegt. Fast
die gesammte Presse Bordeaux, hierunter bekanntlich fast sämmtliche großen
Pariser Zeitungen, die mit der Regierung hierher übersiedelten, unterstützten
die republikanische Ordnung Simons aufs lebhafteste. Der Radicalismus
von Bordeaux sah die Unfehlbarkeit seines einäugigen Abgottes urplötzlich
schnöde desavouirt, und was das übelste war, die neue Regierung hatte sich
durch hinreichende Truppen gegen jeden Handstreich gesichert, gewann täglich
an Anhang im Lande, in der Stadt. Ein Gambetta'scher Präfect nach dem
andern befolgte das Beispiel seines Meisters, und rettete seine innerste Ueber¬
zeugung durch edle Abtretung seines Amtes an die brutale Gewalt.

Unter diesen Verhältnissen erfolgten am 8. Februar die Wahlen zur Con¬
stituante, am 12. deren Bereinigung. Die Wahlfreiheit, die Monsieur de
Bismarck verlangt hatte, war doch etwas reichlicher ausgefallen, als diejenige
des Musterrepudlikaners Gambetta. Die krassen Radicalen in Paris und
hier, in Marseille und Lyon, erfuhren zu ihrem namenlosen Schrecken, daß fast
drei Viertel der Versammlung, die hier tagen sollte, aus konservativen, ja
monarchischen Männern bestehen werde. Im Anfang blieb ihnen noch die
Hoffnung, das sei eitel preußischer Lug und Trug, der biedre Republikaner
sei in den vom Feinde besetzten Departements mit preußischen Bayonetten
von der Wahlurne vertrieben. Hunderte drängten sich an der Gare de la
Bastide, wo die Gleise der nördlichen und östlichen Bahnen einlaufen, wo
die Abgeordneten von jenseit der Demarcationslinie her, aus der preußischen
Knechtschaft eintreffen mußten, die Pariser, Liller und Versailler, die Elsasser
und Lothringer. Aber grade was der Radicalismus zu vernehmen erwartete,
vernahm er nicht. Im Gegentheil, die Wahlen waren in den von den
Preußen besetzten Landestheilen in exemplarischer Freiheit und Ordnung ver¬
laufen — und trotzdem soviel Conservative, sapristi! Man revangirte sich
durch Straßendemonstrationen. Von der Gare de la Bastide, den Quai des
Queyries, Place Napoleon und die wundervolle große steinerne Brücke ent¬
lang standen Hunderte von Menschen, auch Frauen und Damen darunter
in großer Zahl, und die Mädchen der unteren Klassen, die bunten Kopf¬
tücher turbanartig ums Haupt gewunden. Unendlicher Jubel empfing die
Pariser Abgeordneten, namentlich Victor Hugo und Louis Blanc, später
Nochefort; begeistert geleitete man die Straßburger und Metzer zum letzten
Male in ein französisches Parlament.

Im Parlament selbst aber verliefen die Verhandlungen bisher ganz so,
wie die überwiegende conservative Mehrheit erwarten ließ, und ganz anders


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0370" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/125614"/>
          <p xml:id="ID_1294" prev="#ID_1293"> Zügel der provisorischen Herrschaft. Die letzten Ausgeburten der Gambetta-<lb/>
schen Willruhr, die Decrete gegen die Wahlfreiheit und Wählbarkeit, die bis<lb/>
an die Schwelle des Bürgerkrieges getriebene Widersetzlichkeit gegen die Aus¬<lb/>
führung des Waffenstillstandes wurden mit energischer Hand weggefegt. Fast<lb/>
die gesammte Presse Bordeaux, hierunter bekanntlich fast sämmtliche großen<lb/>
Pariser Zeitungen, die mit der Regierung hierher übersiedelten, unterstützten<lb/>
die republikanische Ordnung Simons aufs lebhafteste. Der Radicalismus<lb/>
von Bordeaux sah die Unfehlbarkeit seines einäugigen Abgottes urplötzlich<lb/>
schnöde desavouirt, und was das übelste war, die neue Regierung hatte sich<lb/>
durch hinreichende Truppen gegen jeden Handstreich gesichert, gewann täglich<lb/>
an Anhang im Lande, in der Stadt. Ein Gambetta'scher Präfect nach dem<lb/>
andern befolgte das Beispiel seines Meisters, und rettete seine innerste Ueber¬<lb/>
zeugung durch edle Abtretung seines Amtes an die brutale Gewalt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1295"> Unter diesen Verhältnissen erfolgten am 8. Februar die Wahlen zur Con¬<lb/>
stituante, am 12. deren Bereinigung. Die Wahlfreiheit, die Monsieur de<lb/>
Bismarck verlangt hatte, war doch etwas reichlicher ausgefallen, als diejenige<lb/>
des Musterrepudlikaners Gambetta. Die krassen Radicalen in Paris und<lb/>
hier, in Marseille und Lyon, erfuhren zu ihrem namenlosen Schrecken, daß fast<lb/>
drei Viertel der Versammlung, die hier tagen sollte, aus konservativen, ja<lb/>
monarchischen Männern bestehen werde. Im Anfang blieb ihnen noch die<lb/>
Hoffnung, das sei eitel preußischer Lug und Trug, der biedre Republikaner<lb/>
sei in den vom Feinde besetzten Departements mit preußischen Bayonetten<lb/>
von der Wahlurne vertrieben. Hunderte drängten sich an der Gare de la<lb/>
Bastide, wo die Gleise der nördlichen und östlichen Bahnen einlaufen, wo<lb/>
die Abgeordneten von jenseit der Demarcationslinie her, aus der preußischen<lb/>
Knechtschaft eintreffen mußten, die Pariser, Liller und Versailler, die Elsasser<lb/>
und Lothringer. Aber grade was der Radicalismus zu vernehmen erwartete,<lb/>
vernahm er nicht. Im Gegentheil, die Wahlen waren in den von den<lb/>
Preußen besetzten Landestheilen in exemplarischer Freiheit und Ordnung ver¬<lb/>
laufen &#x2014; und trotzdem soviel Conservative, sapristi! Man revangirte sich<lb/>
durch Straßendemonstrationen. Von der Gare de la Bastide, den Quai des<lb/>
Queyries, Place Napoleon und die wundervolle große steinerne Brücke ent¬<lb/>
lang standen Hunderte von Menschen, auch Frauen und Damen darunter<lb/>
in großer Zahl, und die Mädchen der unteren Klassen, die bunten Kopf¬<lb/>
tücher turbanartig ums Haupt gewunden. Unendlicher Jubel empfing die<lb/>
Pariser Abgeordneten, namentlich Victor Hugo und Louis Blanc, später<lb/>
Nochefort; begeistert geleitete man die Straßburger und Metzer zum letzten<lb/>
Male in ein französisches Parlament.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1296" next="#ID_1297"> Im Parlament selbst aber verliefen die Verhandlungen bisher ganz so,<lb/>
wie die überwiegende conservative Mehrheit erwarten ließ, und ganz anders</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0370] Zügel der provisorischen Herrschaft. Die letzten Ausgeburten der Gambetta- schen Willruhr, die Decrete gegen die Wahlfreiheit und Wählbarkeit, die bis an die Schwelle des Bürgerkrieges getriebene Widersetzlichkeit gegen die Aus¬ führung des Waffenstillstandes wurden mit energischer Hand weggefegt. Fast die gesammte Presse Bordeaux, hierunter bekanntlich fast sämmtliche großen Pariser Zeitungen, die mit der Regierung hierher übersiedelten, unterstützten die republikanische Ordnung Simons aufs lebhafteste. Der Radicalismus von Bordeaux sah die Unfehlbarkeit seines einäugigen Abgottes urplötzlich schnöde desavouirt, und was das übelste war, die neue Regierung hatte sich durch hinreichende Truppen gegen jeden Handstreich gesichert, gewann täglich an Anhang im Lande, in der Stadt. Ein Gambetta'scher Präfect nach dem andern befolgte das Beispiel seines Meisters, und rettete seine innerste Ueber¬ zeugung durch edle Abtretung seines Amtes an die brutale Gewalt. Unter diesen Verhältnissen erfolgten am 8. Februar die Wahlen zur Con¬ stituante, am 12. deren Bereinigung. Die Wahlfreiheit, die Monsieur de Bismarck verlangt hatte, war doch etwas reichlicher ausgefallen, als diejenige des Musterrepudlikaners Gambetta. Die krassen Radicalen in Paris und hier, in Marseille und Lyon, erfuhren zu ihrem namenlosen Schrecken, daß fast drei Viertel der Versammlung, die hier tagen sollte, aus konservativen, ja monarchischen Männern bestehen werde. Im Anfang blieb ihnen noch die Hoffnung, das sei eitel preußischer Lug und Trug, der biedre Republikaner sei in den vom Feinde besetzten Departements mit preußischen Bayonetten von der Wahlurne vertrieben. Hunderte drängten sich an der Gare de la Bastide, wo die Gleise der nördlichen und östlichen Bahnen einlaufen, wo die Abgeordneten von jenseit der Demarcationslinie her, aus der preußischen Knechtschaft eintreffen mußten, die Pariser, Liller und Versailler, die Elsasser und Lothringer. Aber grade was der Radicalismus zu vernehmen erwartete, vernahm er nicht. Im Gegentheil, die Wahlen waren in den von den Preußen besetzten Landestheilen in exemplarischer Freiheit und Ordnung ver¬ laufen — und trotzdem soviel Conservative, sapristi! Man revangirte sich durch Straßendemonstrationen. Von der Gare de la Bastide, den Quai des Queyries, Place Napoleon und die wundervolle große steinerne Brücke ent¬ lang standen Hunderte von Menschen, auch Frauen und Damen darunter in großer Zahl, und die Mädchen der unteren Klassen, die bunten Kopf¬ tücher turbanartig ums Haupt gewunden. Unendlicher Jubel empfing die Pariser Abgeordneten, namentlich Victor Hugo und Louis Blanc, später Nochefort; begeistert geleitete man die Straßburger und Metzer zum letzten Male in ein französisches Parlament. Im Parlament selbst aber verliefen die Verhandlungen bisher ganz so, wie die überwiegende conservative Mehrheit erwarten ließ, und ganz anders

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/370
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/370>, abgerufen am 26.06.2024.